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Friedhelm Döhl • Komponist

Lutz Lesle
'Wandelnd zwischen schwarzen Ufern'
Zur geistigen Physiognomik der Musik Friedhelm Döhls


Vortrag: 'Brücken' - Festival für Neue Musik (composer in residence Friedhelm Döhl), Rostock 26.11.2010.


I. Sprechversuche unter dem Neigungswinkel des Daseins

Die Berechtigung, immer noch Gedichte zu schreiben – in seinen Worten: das "Immer-noch des Gedichts" – könne, so Paul Celan, ja wohl nur im Gedicht dessen zu finden sein, "der nicht vergisst, dass er unter dem Neigungswinkel seines Daseins, dem Neigungswinkel seiner Kreatürlichkeit spricht."

Dieser Satz aus der Dankrede, die der Lyriker 1960 zur Verleihung des Büchnerpreises in Darmstadt hielt, scheint mir sinngemäß auch auf den Komponisten Friedhelm Döhl zuzutreffen. Wüsste ich doch kaum ein Werk aus seiner Feder zu nennen, dem der existenzielle "Neigungswinkel" seines Urhebers, wie des Menschen überhaupt, nicht eingeschrieben wäre.

Schon ein bloßer Blick auf die Titelliste des Komponisten lässt den Skopus seines Schaffens erahnen: die Nähe von Stimmen und Verstummen, die Verschlungenheit von Leben und Tod, Helligkeit und Schwärze, Sommer und Winter, Sonne und Sternverdunkelung. Bachs Choralzeile aus der Matthäuspassion "Wenn mir am allerbängsten", der Klageruf des Amfortas "Hier bin ich – die offene Wunde hier!" aus Wagners Oper Parsifal klingen in mehreren Werken Döhls zeichenhaft an. Neben dem Schattenwurf des Bach-Zitats sind es so endzeitliche Verse wie "wandelnd an den schwarzen Ufern", "purpurn erblüht im Herzen die Höllenblume" oder "grässliches Lachen, das unsere Münder zerbrach" aus Georg Trakls Gedicht Passion, denen die exzessiven Aufwallungen und ahnungsdunklen Menetekel des gleichnamigen Orchesterstücks entfließen. Bezeichnend auch Titel und Thema des (von ihm so genannten) Requiems für sechs Stimmen auf einen Gedichtentwurf von Conrad Ferdinand Meyer: Auf schmalem Grat. Diese Kopfzeile des Gedichts sei "Chiffre für unsere Existenz zwischen Nichtleben, Leben und Tod", bemerkt der Komponist in einer Programmnotiz.

Wer einhellige, von Selbstzweifeln unbenagte Botschaften wünscht, der suche sich einen anderen Komponisten. Als Romantiker des Geistes neigt Döhl zu gemischten Stimmungen, zum gebrochenen Ton, zu labyrinthischen Erzählformen. Komponieren ist für ihn der immer neue Versuch, Klangworte zu finden für das Unsagbare. Wobei er den Impuls zum Weitersprechen oft aus der Sphäre der Musikgeschichte, der Literatur und bildenden Kunst empfängt. Die Wesensart seiner Musik, ihre geistige Physiognomik offenbart sich in dem Leitsatz, den er seiner Symphonie für Cello und Orchester mitgab: "wie im Versuch, wieder Sprache zu gewinnen" – eine Regieanweisung aus dem 2. Akt von Wagners Bühnenweihfestspiel Parsifal, Kundry betreffend.

Dem sinfonischen Keim des Werkes – das traumverwirrte "Ach! Ach! Tiefe Nacht… Wahnsinn…" der von Klingsor aus dem Urschlaf geweckten Gralsbotin, sechs Töne, chromatisch gestammelt, die sich zu einer Zwölftonreihe ergänzen lassen – entwachsen im Verlaufe des Werks vielfältige Klangbeziehungen. Bis hin zum kanonischen Canto amoroso im Finale, welches in einen 24tönigen (quasi) "Mutterakkord" mündet, der alle Gegensätze vereint. Wie hier, so legt Döhl in seinen Instrumentalwerken vielerorts semantische Trassen an: Spuren inhaltlichen Besagens und existenziellen Bedeutens, die sich zwar nie zu ausformulierten Programmen verdichten, wohl aber seiner Musik einen poetischen Charakter verleihen.

Poetische Musik im Sinne Robert Schumanns ist weder auf "Steigerung äußerlicher Virtuosität" bedacht, noch gibt sie sich bloßem "Formwesen, Modeherrschaft und Philisterei" hin. Wobei auffällt, dass Schumann die Begriffe romantisch und poetisch mehr oder minder synonym gebraucht.

Von der generellen Sprachnot gegenwärtigen Komponierens abgesehen, hätten ihn "ganz persönliche 'endspiel-hafte' Erfahrungen" zum neuen Sprechversuch geführt, schrieb Döhl 1981 zur Uraufführung seines Cellokonzerts mit dem Solisten Heinrich Schiff und dem Rundfunk-Sinfonieorchester Saarbrücken unter Hans Zender. Unmittelbar werkauslösend, sagte mir der Komponist später, sei ein Naturerlebnis an der Nordsee während einer Jütlandreise gewesen: "Der Blick auf das Meer, auf den fernen Horizont in dunkler Nacht, die sich langsam in verschiedene Farbtönungen auflichtete."


II. Selbstbegegnung im anderen

"Selbstbegegnung im Medium der Musik" nennt Döhl sein Komponieren. Ich möchte präzisieren: Wiederbegegnung mit den eigenen, in früheren Werken offenbarten Obsessionen im Lichte ihrer geistigen Sendboten. Bach und Trakl färben – wie angedeutet – das Orchesterwerk Passion. Der Gesang der Frühe, den sich Döhl zum 70. Geburtstag komponierte (als Uraufführungsstück zum Festkonzert des Philharmonischen Orchesters der Hansestadt Lübeck), bekennt sich ausdrücklich als "Dialog mit Schumann". Mag der Werktitel auch an dessen späten Klavierzyklus Gesänge der Frühe erinnern – von einer Paraphrase oder "Bearbeitung" kann keine Rede sein. Wer hier (wie andernorts in Döhls Œuvre) Zitate oder Assonanzen quasi mit der Botanisiertrommel einsammeln wollte, verfehlte das Eigentliche seiner Musik. Vorgedachtes aus eigener Werkstatt und Sinnverwandtes fremder Hand umkreisend, schafft sich jedes Werk seinen eigenen mehrdimensionalen Kosmos. Wie sich im Gesang der Frühe beispielhaft zeigt, wenn die Trompete hinter der Bühne traumverloren auf das Initial aus Schumanns Eichendorff-Lied "Aus der Heimat hinter den Blitzen rot" anspielt, bevor sich der Klangraum in Quintschritten öffnet (transformiert aus dem Klaviersatz zu Beginn des Eichendorff-Liedes "Eingeschlafen auf der Lauer"). Im symphonischen Gewebe drängt sich wie von Ungefähr die Gauner- und Ganovenweise aus Döhls dritter Klavierballade swingend vor. Sie weicht dem Adagio-Melos aus Schumanns Zweiter, das mählich in einen Kondukt übergeht. Nach symphonischer Steigerung führt die Soloklarinette zum Schluß die Musik an eine stille, verrufene Stelle, mit einer Reminiszenz an den Werkbeginn.

In der Brechung seiner selbst im anderen – sie erzeugt eher Uneindeutiges, Fragmentarisches, Labyrinthisches als Abgeklärtes, Vollendetes, Zielgerades – offenbart sich der Romantiker. Tonbilder der Interferenz (Schwingungs-Überlagerung), Chiffren der Bangigkeit und Verletzung finden sich in Döhls Schaffen allenthalben. Romantik ist für ihn allerdings keine "bloß gefühlsmäßige Angelegenheit". Ohne rationale Seite, ohne formbildende Arbeit des Geistes in geistfähigem Material – wie Eduard Hanslick das Komponieren definierte – fiele Musik (wie Hegel formulierte) dem "Ach und Oh des Gemüts" anheim. Döhls Musik kennt beides: Gefühls(aus)druck und Formlogik, Melancholie und magisches Quadrat.

Hierzu der Komponist gesprächsweise vor der Uraufführung seiner Oper Medea (1990): "Dieses Ineinander von Rationalem und Gefühlsmäßigem ist für mich grundlegend. Außerdem brauche ich die Möglichkeit, in mehreren Perspektiven gleichzeitig zu denken, Perspektiven aufeinander zu beziehen. Genau dieses finde ich in den Werken Mahlers wie in den Dichtungen und Schriften von Jean Paul und E. T. A. Hoffmann, in den kompositorischen Utopien Schumanns, bei Wagner, Schönberg und Kandinsky. Mein Romantik-Verständnis entspricht dem des Novalis, der hinsichtlich des Romans das Fragmentarische und das Labyrinthische aufeinander bezieht. Der Bezug des Fragmentarischen aufs Labyrinthische ist auch bei Mahler fundamental."

Döhls licht- und schattenwerfende Wahlverwandten finden sich (um es mit E. T. A. Hoffmann zu sagen) sowohl im Geisterreich der Musik wie in Dichtung und Malerei. "Seine" Dichter sind die Dunklen, Verschwiegenen, Verwundeten, Trauernden unter den Lyrikern:

Hölderlin, der 36 Jahre seines Lebens im Tübinger Turm vor sich hindämmerte, nachdem er die Geschichte und Landschaft des Abendlandes elegisch durchwandert, in mythisch-dunkler Bildersprache um die Bestimmung des Menschen und das Wesen der Götter gerungen, Susette Gontard zu seiner Diotima erhoben und ihr entsagt hatte;

Georg Trakl, der trauernde Rhapsode, der bis zum Inzest in die jüngste Schwester verliebte Einsame, der drogensüchtige Pharmazeut und Frontsanitäter, den das Trauma der Geschwisterliebe und Grauen des Galizienkriegs im November 1914 in den Selbstmord trieben;

und Paul Celan, dem unter der traumatischen Last des Holocaust Sprache und Landschaft des Gedichts zerfielen, der aus dem Leben schied, weil er die "Schuld des Verschonten" nicht verwandt.

Indem er ihre Texte und Zeichen in sein Werk einlässt, folgt Döhl einem Kunstprinzip, das die Literaturwissenschaft heute "Intertextualität" nennt – man denke nur an die wiederkehrenden Tonfälle, Motivprägungen und Metaphern, syntaktischen Analogien, mythologischen Anspielungen, Versrhythmen und Strophenformen, die den poetischen Kosmos Hölderlins wie Trakls auf je eigene Weise durchwandern.

In seinem Werkkommentar zur Symphonie für Cello und Orchester – um auf sie zurückzukommen – spricht Döhl von ihrer "unlösbaren Korrespondenz" mit seinen früheren Orchesterwerken Melancolia, Zorch und Ikaros, den vokalen Hölderlin-Fragmenten …wenn aber…, dem Medea-Monolog und anderen Stücken – "im permanenten Dialog mit denen, die mir wichtig waren in Gegenwart und Vergangenheit, wie Wagner, Mahler, Schönberg, Webern (oder auch Novalis, Hölderlin, Trakl, Ungaretti)" – ein Beziehungsgeflecht, aus dem Kundry, die heimatlos zwischen den Welten Wandernde, in ihrer erotischen und magischen Ausstrahlung als Wesensschwester der Medea hervorsticht. Die Wagner-Töne ihres Erwachens, die das Solocello aufnimmt, wird Döhl später seiner Medea in den Mund legen – zu Beginn der 2. Szene des II. Opernakts.

Folgen wir einen Augenblick dem Erwachen des Violoncellos am Anfang des Kopfsatzes mit dem Novalis-Titel Hymne an die Nacht, um anschließend Medeas Wagner-Zitat: "Ach – ach – tiefe Nacht – Wahnsinn" zu hören, bevor sie, sich langsam aufrichtend, ihre Beschwörungsformel ausspricht: "Untres herauf! Obres hinab!" (die mythische Medea hatte die Kraft, Flüsse in ihrem Lauf umzukehren).

Musik 1   Symphonie für Cello und Orchester,
1. Satz Hymne an die Nacht   bis ca. 2'10"   *)

Musik 2   Medea, Szene II/2, Anfang   ca. 1'

Die Symphonie zeigt das Solo-Cello auf der Suche nach der eigenen Identität: von Kundrys stammelndem "Ach" zum Ich des virtuos ausgreifenden Soloparts. Im Versuch, wieder Sprache zu gewinnen, schreibt Peter Becker, finde hier das Ich zu sich selbst – ähnlich dem Lehrling zu Sais aus Novalis' naturphilosophischem Romanfragment.

Die große, harfen- und cellobegleitete Cadenza des Solocellos im Finalsatz Quasi una Fantasia komme von den "leuchtenden Augenblicken" des italienischen Lyrikers Giuseppe Ungaretti her, kommentierte der Komponist. Wobei er an den magischen Zweizeiler Mattina (Morgen) gedacht haben mag, der Weltliteratur kürzestes Gedicht: "M'illumino / d'immenso" – "Ich erleuchte mich / durch Unermessliches" (Ingeborg Bachmann).

Die "leuchtenden Augenblicke" der Kadenz lassen sich, wie mir scheint, als tönende Wunschträume deuten: als Herbeirufen des Entbehrten, mit Ernst Bloch zu sprechen, der dem Flötenspiel des Flurgottes Pan, dem Syrinx-Mythos, das utopische Grundwesen der Musik abhorchte – das "Pathos der Vermissung". Musik als "Ruf ins Entbehrte".

Musik 3   Symphonie für Cello und Orchester,
4. Satz Quasi una Fantasia   4'55" bis 7'15"

III. Fragment, Labyrinth, Mythos

Im März 1985 hatte Karl Heinz Pinhammer im Kieler Schloss einen Liederabend gegeben, in dem er Schuberts Winterreise mit dem Hölderlin-Zyklus …wenn aber… seines Lübecker Hochschulkollegen beziehungsvoll kombinierte. Kurz darauf verunglückte der Sänger auf dem Weg zum Unterricht tödlich.

Schubert, Hölderlin, Fahrt in den Tod – Selbstentfremdung, Vereinsamung, Winterreise: die Ereignisse des Frühjahrs 1985 brachten Döhl kompositorisch wieder auf den Todesgedanken (den er unter anderem in dem Mikrodram Anna K. Informationen über einen Leichenfund, der Gesangs-Szene über einen kleinen Tod, der Orchester-Metamorphose Tombeau und der Passion für Orchester bewegt hatte). Pinhammers Vermächtnis, sein damals auf Schallplatte gepresster Kieler Gesangsabend, lenkte Döhl auf die Nachtseite Schuberts.

Zur selben Zeit bat Radio Bremen den Komponisten um ein Werk, das sich Schuberts Streichquintett im Konzert an die Seite stellen ließ. So entstand das schattenhafte, traumverstörte und verstörende Streichquintett Winterreise, siebenteilig, jeder Teil mit einem Gedicht Georg Trakls sinnverbunden – Abbilder einer anderen Winterreise vor dem Hintergrund einer trostlosen Salzburger Atmosphäre, einer traumatischen Geschwisterliebe und der Vorahnung des Ersten Weltkriegs.

Als Vorecho zu seinem Winterreise-Jahr darf Döhls Gesangszyklus …wenn aber… gelten: neun Fragmente nach Hölderlin, 1967/68 für Dietrich Fischer-Dieskau und dessen Klavierbegleiter, den Komponisten Aribert Reimann geschrieben. Der Werktitel ist aus dem Zusammenhang des Unzusammenhängenden gerissen, ist Fragment eines Hölderlinschen Bruchstücks aus dessen mittleren Lebensjahren, als ihm die Welt zerbarst. Döhls Fragmente über Hölderlins Textbruchstücke sind Gratwanderungen zwischen Leben und Tod: Gesänge eines Menschen, der sich "auf einer Art Bewusstseinswanderung befindet hin zu immer größerer Existenzangst, zu einem lebensbedrohlichen Zustand – bis zur Resignation. Eine andere Art Winterreise…"

Dieser Hölderlin-Zyklus ist Ausgangsort zweier Schaffensströme, deren einer sich – wie angedeutet – mit Schuberts Zyklus Winterreise verbindet und zwei Werke zeitigte: das Streichquintett Winterreise und Klaviersplitter einzelner Lieder aus Schuberts Winterreise, Titel: Bruchstücke zur Winterreise – eine Décollage etwa der Krähe bis auf den Würgegriff im Nacken oder des Leiermanns bis auf das Skelett der leeren Quinten und der ausgeleierten Sechzehntel-Floskel.

Der andere vereiste Strom, der von den Hölderlin-Fragmenten herrührt, führt zu Medea. Medea-Spuren finden sich in mehreren Werken zwischen dem Medea-Monolog und der Oper Medea in drei Akten, entstanden zwischen 1987 und 1990 auf ein eigenes, aus den Medea-Tragödien von Euripides, Grillparzer und Hans Henny Jahnn destilliertes Libretto, szenisch inspiriert von lichtkinetischen Visionen seines Künstlerfreundes Günther Uecker.

Kernstück der Oper ist die Schluss-Szene III/4, Medeas Monolog. "Musikalische und szenische Darstellung sollen die extreme 'Ausgestoßenheit' und Isolation Medeas verdeutlichen. Auch vom Theater, von der Bühne selbst quasi ausgestülpt, ausgespuckt", lautet die Regieanweisung des Komponisten. Die Musik entspricht dem ein Jahrzehnt früher entstandenen Monodram Medea – Monolog für Sopran und Kammerensemble. Er ist der Keim, aus dem (und auf den hin) Döhl die ganze Oper entwickelte.

Dem Monodram liegen zwei konträre Klangzellen zugrunde: die melische Kennung Medeas – ein Dur-Moll-Dreiklangspendel samt vermindertem Dreiklang – und die "grautönige" akkordische Grundgestalt der Männer bzw. Könige: ein in Tritoni eingekreister Moll-Septakkord. Sie stehen als Klangchiffren für die unterschiedlichen Kulturen, die hier aufeinander prallen: das vor-homerische, animistische (naturbeseelte) Asien, dem Medea, Magierin und Mondfrau, entstammt – und die materialistische Männerwelt der Griechen. Medea, vom Matriarchalischen ins Patriarchalische umgestülpt, schwankend zwischen den Kulturen, zwischen Liebe und Hass, Leidenschaft und Leere – auf sich selbst zurückgeworfen. Entsprechend schwankt ihr Gesang zwischen der ihr eigenen, lichten Tonwelt und der von Sekunden, Nonen und Tritoni geprägten, dissonanten Klangsphäre der Könige. Zieht ihre wilde Klage gegen die Verbannung ("ausgestoßen" – "gemieden" – "verlassen von ihm" – "Mordgedanken") die harmonisch-melodischen Grautöne der Griechen an, so ist sie bei der Anrufung ihrer Kinder musikalisch ganz bei sich selbst.

Musik 4   Medea-Monolog   ab 6'00 bis ca. 8'15"


IV. Mehrdeutigkeit – Ambivalenz – Sinnumkehr

Fragt man nach den ästhetischen Leitvorstellungen Döhls, so ließe sich schlagwortartig antworten: Beziehungsnetze spinnen, Gegensätze verbinden, doch Ambivalenzen erhalten. Werkinterne und werkübergreifende Verweisungen, Fremd- und Selbstzitate, Setzung und Entgegensetzung (Streichquintett Winterreise, Klavierkonzert Sommerreise) weiten sich im Hin und Her der Verknüpfungen zu mehrdeutigen Klangräumen, die an die augentäuschenden Carceri (Kerker) des italienischen Kupferstechers Giovanni Battista Piranesi erinnern.

Im Streichquartett Sound of Sleat – benannt nach einem Sund in Schottland, dessen monochrome Atmosphäre Döhl und seinen Malerfreund Jon Schueler gleichermaßen anzog – sind Ambivalenz und Übergänglichkeit Kompositionsprinzip.

Zwei Akkorde "fremder Hand" bilden die Klangzentren des Werks: der Fünfton-Akkord aus Schönbergs berühmten Orchesterstück op. 16, Nr. 3 Farben und der sechstönige Akkord aus dem letzten seiner kleinen Klavierstücke op. 19 (Tombeau auf Mahlers Tod). Sie gehen ineinander über wie Himmel und Meer an den Inneren Hebriden. Ihre Verschränkung prägt die Form des Stücks.

Das Wechselspiel der Artikulationsarten und Tonhöhenschwankungen erinnert an den amerikanischen Maler Mark Rothko, der die transparenten Randzonen seiner Farbfelder verschwimmen lässt und diese so in der Schwebe hält. Der englische Maler Francis Bacon verwischt und entstellt seine oftmals schockierenden Figuren ins Schemenhafte. Beide Maler zählt Döhl in einem Kommentar zu seinem Orchesterstück Gesang der Frühe zu seinen künstlerischen Wahlverwandten.

Mehrdeutigkeit kann sich auch in variablen Besetzungen äußern, wie Döhls Requiem (Atemwende) zeigt. Dort wechselt der Chor Formation und Vortragsweisen (Doppelchor, gemischter Chor, Frauenchor, Sprechchor – monodisch, homophon, polyphon). Zwei weitere Vokalfarben geben die Soli: Alt/Mezzosopran und Bariton. Den Gesang interpolieren oder begleiten sowohl die Orgel als auch Bläser und Schlagzeug.

Auch die Harmonik changiert: Kirchentonales steht neben chromatisch-dodekaphonen Partien, "Post-Atonales" geht über in Mixtur und Geräusch. Satzarten und Formprinzipien wechseln von freier Fantasie zu strenger Kanonik, vom Rezitativischen zum Liedhaftem und Dramatischen. Vom lateinischen Requiem-Text blieben nur Ruinen. In die leeren Fensterhöhlen der Totenmesse montierte Döhl Texte, in die sich das Grauen des Holocaust eingrub: Gedichte von Paul Celan und Nelly Sachs. Dazu den trotzigen Psalm Wir, die wir unsere Klagemauer auf dem Rücken trugen von Jeanette Lander und ein eigenes Textfragment im dunklen Ton Trakls.

Im Gedicht Tenebrae, das Döhl 1996 auch in seine Celan-Lieder für Bariton und Klavier aufnahm, kehrt der Dichter die vertraute Gebets-Situation um: "Bete, Herr, / bete zu uns, / wir sind nah" – eine verzweifelte Variante zu Jakobs "Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn" (1. Buch Mose, Kap. 32, 27). Hören wir Döhls Liedversion mit Ulf Bästlein und dem Komponisten am Flügel. Die Rollfigur des Klaviers zu Beginn scheint als mimetische Chiffre dem Zeilenpaar "Gegriffen schon, Herr, / ineinander verkrallt" abgehorcht. Das Glänzen des Blutes – Blut von unserem Blute, das der Herr vergoss – bricht sich im gehauchten Falsett des Sängers. Psalmodierend hingestammelt die Klage: "Wir haben getrunken, Herr. / Dein Blut und das Bild, das im Blut war, Herr", bevor dem Sänger beim letzten "Bete, Herr. / Wir sind nah" die Stimme bricht.

Musik 5   Celan-Lieder für Bariton und Klavier, II. Tenebrae   3'

Döhls Requiem (Atemwende), eine nichtliturgische Totenmesse auf den Trümmern von Krieg und Holocaust, fügt sich in den Dialog von Leben und Tod, der sein Schaffen von jeher begleitet – ausgehend von der "Wunde Mahler", die ihm in der 1960er Jahren zum Schlüsselerlebnis wurde. Revelge, Stundenglas und Hippe sind mitgedacht – im Requiem wie zuvor in den Klavier-Balladen nach Celan, in Tombeau (letzte "Station": Kondukt) oder im Schlussteil seiner Symphonie für großes Orchester, Exodos.

Auf der Suche nach einem Dichterwort, das dem existenziellen Klima seines Lebenswerks metaphorisch möglichst nahe käme, stieß ich auf die Schluss-Strophe aus Trakls Gedicht Untergang (3. Fassung):

Vergangener tönen die Lüfte am einsamen Hügel,
eines Liebenden trunkenes Saitenspiel.
Unter Dornenbogen
O mein Bruder steigen wir blinde Zeiger gen Mitternacht.



*) Musikbeispiele aus der Friedhelm Döhl Edition bei Dreyer-Gaido
der Reihenfolge nach Vol. 6, 15, 5, 11.