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Friedhelm Döhl • Komponist

Friedhelm Döhl
Stationen (Rückblick 2010)




"Entwickeln wir, machen wir unter Anlegung eines topographischen Planes eine kleine Reise ins Land der besseren Erkenntnis: Über den toten Punkt hinweggesetzt sei die erste bewegliche Tat (Linie). Nach kurzer Zeit Halt, Atem zu holen (unterbrochene oder bei mehrmaligem Halt gegliederte Linie). Rückblick, wie weit wir schon sind (Gegenbewegung). Im Geiste den Weg dahin und dorthin erwägen (Linienbündel) … Drüben treffen wir einen Gleichgesinnten, der auch dahin will, wo größere Erkenntnis zu finden."

Dieses Zitat aus Klees "Schöpferischer Konfession" ist und war seit Studienbeginn Motto meines Denkens und Schaffens, – vor dem Beginn einer Komposition, während des Komponierens, von Werk zu Werk.

An ein Leben ohne Musik kann ich mich nicht erinnern. Schon als Kind fasziniert von Bach: seiner magischen (Klang-)Welt im (Kirchen-)Raum. Später er'tastete' ich mir auf dem Klavier die Spuren meiner Vor-Bilder (von Bach über Klassik und Romantik zu Debussy und Bartók), denen ich dann auch improvisierend und komponierend nachzufolgen suchte. Viele unabgeschlossene 'Fantasien'!

Im Studium fasziniert von Mahler und Webern, die ich – auf meinen ersten Tonbändern – immer wieder hörte und analysierte (Aufsätze, Webern-Buch), deren Spuren ich in Wien aufsuchte und die ich bald als 'aufeinander bezogenen Gegensatz' begriff. Die Entdeckungsmöglichkeiten der sogenannten 'Neuen Musik' – in Wechselwirkung mit Malerei (Kandinsky, Klee, Michaux) und Literatur (über meinen Schriftsteller-Bruder Reinhard Döhl) – führten von seriellen zu 'informellen' Kompositionen und darüber hinaus – über eine Neuerfahrung der Beziehung von 'Klang und Form' – zum eigenen Weg.

Ich schrieb Werke in allen Gattungen: für Soloinstrumente, Liederzyklen, Kammermusik, diverse Ensembles, Chor, Orchester, Szenisches, Grafische Partituren, Live-Elektronik, Raum-Kompositionen. Immer, in jedem Werk, ging/geht es mir um die jeweils 'richtige' (selbst- wie werk-eigene) Lösung.




Musik und Sprache

Oft gibt es Korrespondenzen mit der Literatur, einerseits in den Vokalkompositionen:

– in den Liedern: Vagabundenlieder (Reinhard Döhl), Trakl-Lieder, 7 Haiku (wo mir 1963 in zwei Tagen etwas gelang, was, ganz frei von konvenierten Formvorstellungen, quasi 'schwebend' war), "… wenn aber …" / 9 Hölderlin-Fragmente, "Unterwegs" (eigene Texte), "Itke-Songs" (Jeanette Lander), Celan-Lieder, "Sonne"/2 Hymnen (eigene Texte, Collage),

– in den Chören "Hälfte des Lebens" (Hölderlin), "Melancolia" für großes Orchester mit Chor und Sopransolo (Collage, abstrakte Laute bzw. Stimmgeräusche), "Auf schmalem Grat"/Requiem für 6 Stimmen (C.F.Meyer), "Requiem 2000/Atemwende" (Collage, aus Bibel, Missale, Bach, Trakl, Celan, Nelly Sachs, Jeanette Lander), "Sternverdunkelung" (Variante von 'Requiem 2000'),

– in den szenisch orientierten Werken: "Epitaph Tich Yuang Tuc" (nach einem japanischen Tanka), Fragment "Sybille" (Hölderlin), Mikrodramen "Süll", "A&O", "Anna K" (eigene Texte, Collage), "Szene über einen kleinen Tod" (Collage), "Medea-Monolog" und "Medea"-Oper (eigener Text, Collage).

Andererseits aber auch in Instrumentalwerken, ohne daß diese als 'Programmmusik' verstanden werden können, eher als 'subkutane' musikimmanente Korrespondenzen:

– so in "Tappeto" (Ungaretti), "Sotto voce"(Beckett), "Odradek" (Kafka), "Der Abend/Die Nacht" (Trakl), "Ikaros" (Erik Lindegren), "Conductus" (Nicolas Born), 3 Balladen nach Celan, "Canti" (Leopardi), "Celan-Musik", "Hiob",

– Korrespondenzen auch mit Musik anderer, z. T. gleichzeitig mit Dichtung: "Passion" (Bach, Trakl), "Winterreise" (Schubert, Trakl), "Sommerrreise" (I: Czerni/Indianerlied, II: Lohengrin/Flohwalzer), "Tombeau" (Schumann, Chopin), "Gesang der Frühe" (Schumann),

– oder mit Bildender Kunst: "Passages" (Michaux), "Melancolia" (Dürer), "Klang-Szenen" (Günther Uecker), "Sound of Sleat" (Jon Schueler, schottische Landschaft), "Ballet mécanique" (zum Film von Fernand Léger), "Cubecracks" (HD Schrader).

– Auch Biographisches spielt hinein: z.B. "Tombeau", "Herbstsonate", "Ite missa est", "Gesang der Frühe",

– oder Traum und Psyche: z.B. "Traum-Stücke", "8 Portraits", "Szene über einen kleinen Tod", Cello-Konzert, 'Medea'-Monolog und -Oper u.a.

Nicht zu vergessen die Korrespondenzen und Inter-Aktionen zwischen den Werken, vor und zurück…




Kammermusik – Lyrik

«Musikalische Sprachfindung ist bei Döhl immer wieder der eigentliche Gegenstand der Komposition. Oft vollzieht sie sich im Medium der Dichtung: in Liedern und Gesängen,aber auch in rein instrumentalen, wortlosen Kompositionen …» (Peter Becker)

Tatsächlich verweisen zahlreiche Instrumentalwerke im Titel oder Untertitel auf literarische Vorlagen – wie die "3 Balladen" für Klavier (nach Celan), "Und wenn die Stimme…" (nach Beckett), "Odradek" für 2 offene Flügel (nach Kafka) u.a.. Doch ist die Dichtung hier weniger 'Programm' als Hintergrund bzw. korrespondierender Partner bei der Entstehung der Komposition, die im Ergebnis ebenso 'absolut' für sich stehen könnte.

Kammermusik und Lyrik sind bei mir zwei Perspektiven, die einander ergänzen, man kann fast sagen: einander bedingen. Deutlich schon seit den "7 Haiku" 1963 für Sopran, Flöte und Klavier bzw. für Sopran und Klavier. Indes, die 'lyrischen' Werke sind keine Parallel-Vertonungen der literarischen Inhalte, sondern auch eigenständige musikalische Kompositionen, wobei Text, Stimme und Instrumentation gleichberechtige Faktoren der Struktur sind, jeweils sehr individuell und verschieden, wie zuletzt in den "Sonne-Hymnen" oder in den "Celan-Liedern". Auf der anderen Seite: Die 'Kammermusik' ist durchaus instrumental gedacht, instrumental anspruchsvoll und eigentümlich, zugleich ist sie vom Lyrischen durchwirkt und geprägt, wenn auch quasi 'unausgesprochen'. Das "Concerto a due" hat immer auch lyrische Komponenten: die Liedzitate in Satz I, 'Lied' und 'Ballade' in Satz II und III. Das Duo für Flöte und Cello "Der Abend/Die Nacht" weist schon im Titel auf einen (auch nachprüfbaren) Bezug zu Gedichten von Trakl hin. (Doch niemand muß die Gedichte kennen, um die Musik zu 'verstehen'.) Da ich in Berlin einige Beckett-Inzenierungen erlebt habe, steht das Beckett-Zitat nicht unbedacht vor der (Berliner) Partitur von "Sotto voce" (s.u.). Nun kann zwar ein Beckett-Text zu einer gewissen musikalischen Assoziation helfen, diese ist dann aber nicht zwingend eindeutig, so wenig, wie der Beckett-Text in sich zwingend eindeutig sein will. Umgekehrt kann auch die Musik vielleicht einen ungeahnten Weg zum Beckett-Text öffnen. Doch Text und Musik können sich auch gegenseitig entbehren. Sie sind so unabhängig, wie sie vieldeutig sind. Bemerkenswert ist, daß ich – wie aus den Skizzen hervorgeht – den Text erst nach der Kompositionen in die Partitur schrieb, als eine mögliche Perspektive der musikalischen Idee.


Liederzyklen

Mein Vokalschaffen umfaßt Werke für Gesang und Klavier, Gesang und Ensembles, Mikrodramen, Gesangsszenen, Chor, Oper, Requiem. Hier ist die Beziehung zur Dichtung gegebenermaßen fundamentaler als bei den Instrumentalwerken, doch bleibt sie auch hier ambivalent: Zwar lasse ich mich einerseits ganz auf den Text ein (inclusive der sprachlichen und gesanglichen Deklamation), doch indem ich mich in das 'Dickicht' des Textes begebe, bewege ich mich in einem vieldeutigen Labyrinth von Assoziationen, aus dem immer neue eigenständige musikalische Formen resultieren.

Die Zyklen für Gesang und Klavier könnte man auch mit Vorbehalt als 'Liederzyklen' bezeichnen, wenn man nämlich den Begriff 'Lied' relativ versteht. Selten finden sich noch strophenförmige Lieder – wie in den frühen "Trakl-Liedern". Danach folgen ganz individuelle Liedgestaltungen, ob scheinbar 'informell' – wie in den "7 Haiku", oder in Korrespondenz zu allgemeinen musikalischen Formprinzipien – wie in den Hölderlin-Fragmenten "… wenn aber …".

1963 entstanden in zwei Tagen die "7 Haiku für Sopran, Flöte und Klavier" (1979 Fassung für Sopran und Klavier). Sie haben "den schwerelosen Gestus des spontanen Einfalls" (Uwe Sommer). Quasi in Gegenbewegung zu der normativen Ästhetik der Reihenkomposition beschäftigte ich mich seit 1962 ("Passages" für Klavier) mit informeller Malerei und Dichtung sowie mit Zen und japanischer Lyrik.

«Die Haiku sind frei schwebende Gebilde; eine Welt in sich, zugleich offen, ohne Anfang und Ende; vieldeutig: heiter und melancholisch, lyrisch und ein wenig skurril, bildhaft und abstrakt.» (FD)

Diese Anmerkung kann wie auf die Texte auch auf ihre Komposition bezogen werden:

«Ihr kristallines Klangbild gibt den einfachen und bilderreichen japanischen Kurzgedichten Raum, sich in ihrer Vieldeutigkeit zu entfalten.» (U. Sommer)

Seit frühen Jahren beschäftigte ich mich mit Hölderlin. 1958 komponierte ich "Hälfte des Lebens" für gemischten Chor und Instrumente. 1963 publizierte ich in der Zeitschrift 'Musik im Unterricht' den Essay 'Hölderlin und die Musik'. Im selben Jahr komponierte ich das Fragment "Sybille" für Bariton, Flöte, Viola, Violoncello und Klavier. Der Zyklus "…wenn aber… / 9 Fragmente nach Hölderlin" entstand 1969, ein Jahr nach der Uraufführung meines ersten großen Orchesterwerkes "Melancolia". Er ist Dietrich Fischer-Dieskau gewidmet, der ihn – mit Aribert Reimann am Klavier – 1971 uraufführte. Die Texte sind aus unvollendeten Plänen und Bruchstücken Hölderlins ausgewählt und kompositorisch zu einem Zyklus gefügt, den ich als 'eine andere Art Winterreise' verstand. Zu einer Aufführung bei den Wittener Tagen für Neue Kammermusik 1980 schrieb ich im Programmheft:

«Fragmente – nicht 'Lieder' im üblichen Sinn. Fragmente – zugleich 'Labyrinthe', existenziell wie ästhetisch: Doppelbödigkeit von Musik und Sprache. – Texte des mittleren Hölderlin, als diesem die Welt aufbrach, als er in ihren Rissen und Trümmern herumtastete, die verschiedenen Zeiten und Räume durcheinander bringend, aufeinander beziehend (so besonders exponiert in dem ersten Fragment 'Tende Strömfeld …', das Hölderlin auf die Rückseite einer Wäscherechnung notierte). – Ein auslösender Moment der Komposition war die Vorstellung des Hölderlinschen 'Gesangs', wie ihn Wilhelm Waiblinger beschrieb:

Hat er eine Zeitlang (auf dem Klavier) gespielt und ist seine Seele ganz weich geworden, so fällt plötzlich sein Auge zu, sein Haupt richtet sich empor, er scheint vergehen zu wollen, und er beginnt zu singen. In welcher Sprache, das konnte ich nie erfahren, so oft ich es auch hörte; aber er tat es mit überschwänglichem Pathos, und es schauderte einem in allen Nerven, ihn so zu sehen und zu hören. Schwermut und Trauer waren der Geist seines Gesanges.

Formal sind die Fragmente zum Teil reduzierbar auf die musikalischen Prinzipien Fantasia, Canto, Ornamento, Rondo, Recitativo. Inhaltlich ist der Zyklus eine Art Irrfahrt durch die Labyrinthe der Außen- zur Innen-Welt, über die verschiedenen Stationen von Traum, Lust, Sehnsucht, Trotz, Trauer, Verzweiflung bis zur Resignation, schon jenseits der Verzweiflung. Mit gewissem Vorbehalt: eine andere 'Winterreise'.» (FD)

"…wenn aber…" ist vielleicht mein gewichtigster Liederzyklus, auch in seiner Nachwirkung auf spätere Werke. Zugleich entstand er – wie auch, ganz anders, die "Klang-Szenen" I und II – in Gegenbewegung zu meinem Orchesterwerk "Melancolia" (s.u.).

Auch in meiner weiteren Entwicklung setzten Vokalwerke immer wieder Wegzeichen,

– wie die "Mikrodramen" (1972-74) oder die verschiedenen Ensemble-Kompositionen "Szene über einen kleinen Tod" (1975), "Auf schmalem Grat" (1978). "Medea"-Monolog (1980),

– wie auch die weiteren Liederzyklen "Unterwegs / 7 Stationen" für Sopran und Klavier (entstanden auf Reisen 1976-78, nach Pindar/Hölderlin, Trakl und eigenen Texten), "Celan-Lieder" für Bariton und Klavier (in Reaktion auf die Textwelt Celans quasi zögernd entstanden in den Jahren 1996-2006) und "Sonne / 2 Hymnen" für Sopran, Flöte und Klavier (entstanden 2005/06 nach eigenen Texten, Collage und Decollage).




MELANCOLIA – Magische Quadrate
für großes Orchester mit Chor und Sopransolo (1967/68)

In den Jahren 1967/68 lebte ich als Rompreisträger in der Villa Massimo in Rom, zusammen mit Schriftstellern und bildenden Künstlern wie Bert Gerresheim, mit dem ich mich austauschte über die Beziehung zwischen den Künsten, über Dürer und die Geschichte der 'Melancholie', oder Horst Hödicke, zu dessen New-York-Filmen ich Musik improvisierte, und zwar vorwiegend im offenen Flügel. Die Improvisationen im Flügel entwickelte ich dann methodisch unter verschiedenen formalen Gesichtspunkten, auch im Hinblick auf mein erstes großes Orchesterwerk "Melancolia". Der Flügel bot in seinem Inneren über die 'Tasten' hinaus eine weite Palette von Farben, wie ein 'Orchester'.

Die 'Melancolia', die sich – in Verbindung mit der Klang-Form-Genese – auch auf ein Bild Dürers und ein 'magisches Quadrat' bezieht sowie auf Sprachlaute und Text, machte mir schlagartig die Situation des Komponierens bewußt, als 'Labyrinth' im Sinne von Novalis: "Häufung mehrerer Rollen und Zustände auf eine Person zu einer Zeit". Die Komposition ist ein Flechtwerk von Einflüssen, die nicht mehr (oder nur partiell) auf einen Ariadne-Faden zu beziehen sind. Musik ist für mich – wie alle Kunst, die mir was sagt, wie das Leben – so vielbezüglich wie vieldeutig und offen.

Die Komposition "Melancolia" entstand in Rom 1967/68, als Kompositionsauftrag des WDR Köln. Aus dem Programmheft der Uraufführung in Köln am 8.11.1969 (Kölner Rundfunk-Sinfonieorchester und -chor, Sopran Edith Gabry, Leitung: Christoph von Dohnányi):

«Auf Dürers Kupferstich "Melencolia I" aus dem Jahre 1514 sitzt eine weibliche Gestalt, geflügelt und doch schwer, den Kopf gedankenverloren auf die Faust gestützt, bewegungslos und doch umgeben von verschiedenen Zeichen mathematischer und handwerklicher Tätigkeit, dazu Glocke, Sanduhr und magisches Quadrat, schlafender Hund, Engel und Fabeltier, Komet und Regenbogen – viele Zeichen, nicht leicht zu deuten. Dieses Bild war einer der Ausgangspunkte der Komposition, doch weniger der konkret dargestellte Inhalt als vielmehr das Allgemeine des Gegensatzes-Nichtgegensatzes von Rationalem und Emotionalem, das in dem Begriff "Melancholie" liegt (in der antik-mittelalterlichen Doppelbedeutung von Depression und geistiger Reflexion) – wie auch in dem auf dem Bild gezeigten magischen Quadrat "Melancolia", welches die Synthese von Zahl und Mystik symbolisiert, rätselhaft.

Mit dem "magischen Quadrat" ist ein zweiter Ausgangspunkt gegeben, in technischer Hinsicht für die Gestaltung der strukturellen Proportionen der Komposition, in allgemeiner Hinsicht als ästhetischer Bezugspunkt. Das magische Quadrat ist in jeder Richtung lesbar. Es bedeutet a) die (meditative) Aufhebung eindimensionaler, diskursiver Vorstellung, der gewohnten Gesetze zeitlicher "Entwicklung", b) das rational-mystische Problem, vieles aus einem bzw. in einem zu sehen, d.h. das Einfache im Komplexen wie die Komplexität des Einfachen.

Ein rein musikalischer Ausgangspunkt, der sich beim Komponieren weiter differenzierte, war das Problem, die Beziehung zwischen Klang und Form als logische wahrzunehmen, d.h. die Form im Klang und die Form aus dem Klang heraus zu gestalten. Ein globaler Hinweis mag genügen:

Satz 1 (Block I): Ein scheinbar statischer Klang stellt sich im Verlauf dar als dynamisch, polychrom, wird schließlich transformiert zu einem (scheinbar) neuen Klang. – Eine Umkehrung findet statt in Satz 3 (Block II): Ein streng polyphones Stimmgewebe "tritt" gleichsam "auf der Stelle", enthüllt sich als (in sich mobile) Klangstruktur, abgeleitet aus dem halbierten Ausgangsklang des ersten Satzes. Die rhythmische Klangstruktur emanzipiert sich schließlich ganz vom Melisch-Harmonischen und gerinnt zum Geräusch.

Die Untertitel der 3 Sätze implizieren die musikalische Umdeutung alter Formbegriffe:
Satz 1: "sinfonia" – vom (scheinbar) homophonen "Zusammenklang" ausgehend, ihn auflockernd, auflösend, umformend. – Satz 2: "passacaglia", hier nicht auf einem gleichbleibenden Baßgerüst basierend, sondern auf einem rhythmischen Gerüst (Schlagzeugteppich), das zunehmend aufgelockert und aufgelöst erscheint. In die "Löcher" treten dann bekannte, "vergangene" Momente: Vokalise, Melos, Text, – doch nur "en passant", als kreisendes "Vorüber". – Satz 3: "canon" – die strenge Polyphonie und Kombinatorik zum Mittel der Klangkomposition 'umfunktionierend', bis hin zum Geräuschhaften.

Zwischen Satz 1 (quasi als klanglicher Öffnung: Klang, Vokale) und Satz 3 (quasi als klanglicher Schließung: Geräusch, Konsonanten) steht die Text-Collage in Satz 2:

… stimmen
tote stimmen wie flügel
wie blätter wie sand wie blätter
o meine müden füße ihr müßt tanzen
wie blätter wie sand wie asche
tanzen zu rauch
tanzen zu schnee
schatten tanzende schatten im leeren kristall

von schatten zu schatten von schatten zu
zu asche von asche …

Doch die damit gegebene semantische Vorstellbarkeit ist nur eine Schicht der Komposition, an der die Deutung nicht kleben sollte, schon weil sich der Text erst im Verlauf der Komposition einstellte. Musik also nicht als "Vertonung", sondern als Spiegel. Verschiedene Deutungen offen lassend.» (FD)




Klang – Farbe – Form

Die Begegnung mit Bildenden Künstlern in Rom setzte sich fort in Düsseldorf, hier dann besonders mit Günther Uecker, mit dem ich 1970 und 1971 neuartige "Klang-Szenen" gestaltete, für die Kunsthalle Düsseldorf, das Festival Edinburg, die Nationalgalerie Berlin.

Diese elementaren neuen Erfahrungen im Umgang mit dem Klang und im Klang wirkten natürlich auch auf meine späteren Instrumentalkompositionen, besonders auf Streichquartett "Sound of Sleat" und auf die Komposition "Zorch / Sound-Scene" für Big-Band und 3 offene Flügel (1972).

Im Interview mit Hans Oesch beschrieb ich

«das Problem, Klang (Farbe) und Form aufeinander zu beziehen als ein zentrales Problem für die Selbstfindung der Musik nach Aufgabe der Tonalität … In "ZORCH / Sound-Scene" für Big-Band und 3 offene Flügel (1972) begegnen sich die Idee einer logischen Klang-Form-Beziehung und die Idee eines quasi animalischen oder vielleicht auch landschaftlichen Organismus … Der Big-Band sind drei offene Flügel entgegengestellt, und diese Kombination ist nun in verschiedener Weise zu Kontrast und Mischung benutzt. Die große Kadenz im Mittelteil gehört den drei Flügeln, die ausschließlich innen gespielt werden auf den verschiedenen Saiten-, Holz- und Metallteilen. Die Flügel, die in sich fast sämtliche orchestralen Farben in irgendeiner Weise enthalten, werden selber zum Orchester. Der Begriff 'Sound-Scene' bedeutet etwa Szene, Landschaft, Geschehen von und im Klang. Die 'Sound-Scene' entwickelt sich nicht aus Themen oder Motiven, nicht aus kontrapunktischer Verknüpfung von Stimmen, sondern aus dem Klang, wobei Klang als Farbe verstanden ist und Farbe als Organismus, als variabler Zustand, als Prozeß. Die Form des Ganzen ist mehrdeutig.»

Die Cadenza aus "Zorch / Sound-Scene" wurde später unter dem Titel "Cadenza für 1-3 offene Flügel" als Separatum bearbeitet und ediert. Im Prinzip – wegen der Offenheit und Vieldeutigkeit der Partitur – könnten auch beliebig viele Flügel an einer Aufführung beteiligt werden. Ich selber habe die 'Cadenza' oft solistisch gespielt – oder im Duo, wie mit der Schweizer Pianistin Marianne Schroeder. Meine Komposition erweitert, mit Hilfe geeigneter Spielttechniken, den üblichen Tastenklang um eine Palette, die zum Teil an die Farben der Saiten-, Blas- und Schlag-Instrumente eines Orchesters erinnert, aber vor allem neue Farben erschließt. Wie ich in meinem Vortrag 'Vom Tanz zur Winterreise' (EPTA-Dokumentation 1992) erklärte,

«erfordert der abenteuerliche Gang in die neue Klanglandschaft eine neue Notation, welche die neuen Spielorte und Spielweisen bezeichnet, mit (topo-)grafischen Mitteln. Wie eine Landkarte mit Wegbeschreibung.»

Auch im Streichquartett "Sound of Sleat" (1971/72) ging es mir, ausgelöst durch die Erfahrung der "Klang-Szenen", um den 'abenteuerlichen Gang in eine neue Klanglandschaft', doch ohne aleatorische Elemente, genau notiert, weniger dynamisch als statisch, gegliedert in 3 größere Abschnitte, die 'attacca' aufeinander folgen: Tranquillo – Più tranquillo – Più mosso. Und doch ist die Musik in ständiger 'Vibration' und 'Fluktuation'. In einem Brief an Wilfried Brennecke, abgedruckt im Programm zur Wittener Uraufführung 1972 durch das Gaudeamus-Quartett, beschrieb ich das Streichquartett als "Bewegung im Zustand":

«zwischen Klang (Farbe) und Form, zwischen 2 auf berühmten Schönberg-Akkorden basierenden harmonischen Kraftfeldern, dort Zeichen nicht mehr möglicher Form, – hier Anlaß der  n o c h  möglichen Form: Bewegung im Zustand. 'Sound of Sleat', weil in der schottischen Landschaft 'Sound of Sleat' und den gleichnamigen Bildern unseres Freundes Jon Schueler die (innere) Komposition begann. Doppeldeutigkeit: 'sound' – Sund und Klang, 'sleat' – der Ort und die monochrome Atmosphäre, wo Himmel und Meer am Horizont ineinander übergehen.»

Das Programmheft der amerikanischen Erstaufführung von 'Sound of Sleat' durch das LaSalle-Quartett, Cincinatti 1982, zitiert aus einem Brief von mir an Walter Levin und aus einer Beschreibung von Jon Schueler:

«In 1970 after the performance of my 'Sound Scene I' at the Edinburgh Festival, we lived at the house of our painter friend, Jon Schueler, in Mallaig, Scotland, 'at the end of the road' with a view onto the horizon – a slim, sometimes hazy line of the Skye-Isle with the sea in front, the sky above, all in constant motion and alteration, forever merging into one another – sometimes more, sometimes less – almost mutually dissolving then appearing separately. The water between the observer and the horizon is called the Sound of Sleat – a double meaning inspiring my idea of the string quartet – this body of water merging into the sky and vice-versa, with the horizon becoming increasingly blurry.

The view is described poetically by the painter Jon Schueler, who has also been inspired in his work by the Sound of Sleat surrounding his house in Scotland:

Standing our small ground at the edge of the sea, we seemed isolated from the Sound of Sleat, the Sleat Peninsula and the sky and cloud above it. The vision was intensely real, yet it was the most powerful abstraction – Nature a cold, stately presence, remote and unconcerned, beyond man's definitions, his identifications, his attempts at understanding, oblivious to his emotion. Man could only be irrelevant in the face of this implacable event, this dark and light of eternal death. Everything about the Sound of Sleat that I might have remembered, every color, shape or form, the identity of sky, land or water, was destroyed and replaced by those events which I can only call the unearthly light, the dark, dark rich beyond the black, the mass of grey, and the deep shimmering of a streak below, a presence more powerful, more beautiful, more seductive, more real than man's fantasies of poetry or joy or the damnation of his days.»

Das Streichquartett macht zudem deutlich, wie in den musikalischen Entstehungsprozeß auch (später kaum analysierbare) Eindrücke aus Natur und Malerei einfließen können. – Dennoch verstehe ich meine Musik, unabhängig von ihrer Affinität zu Natur und Bild als autonome "Klang-Landschaft" oder "Klang-Szene für Streichquartett". Dabei geht es, nach dem Vorwort der Partitur:

«nicht um 'individuelle' Stimmen, sondern um die klangliche Summe, gleichsam eine bewegte Fläche, in der die einzelnen Stimmen und Momente mal weniger, mal mehr hervortreten, ineinander verschwimmen.»




Endspiele. Mikrodramen

"Sotto voce" für Flöte, Cello und Klavier komponierte ich für das IGNM-Festival Reykjavik 1973 (Uraufführung durch Gerhard Braun, Werner Taube und Peter Roggenkamp. Später zahlreiche Aufführungen und Aufnahmen, insbesondere durch das Trio Pleyel: Hartmut Gerhold, Werner F. Selge und Ulrich Meckies).

"Sotto voce" vereint die neuen Tendenzen der Berliner Zeit – Klang-Farbe-Form-'Vibration', 'Bewegung im Zustand', Reduktion – mit einer Tendenz zur Stille, wobei diese Stille kaum verschweigt, daß sie subkutan vulkanischen Ursprungs ist.

Ich stelle meiner Partitur zwei Zitate voran, ein lexikalisches, das auf die Vortragsweise zielt ('unter der Stimme'), und ein Zitat von Beckett (den ich in Berlin auch als eindrucksvollen Regisseur seiner eigenen Werke erlebte), das die Dialektik zwischen Ton und Schweigen beschreibt, wie auch die untergründige "Anarchie der Stille" (Hans Saner):

«(ital., 'unter der Stimme', leise, gedämpft), Vortragsanweisung, die ähnlich wie 'mezza voce' eine Veränderung der Klangfarbe in Richtung des gedämpften Tons, äußerste Zurückhaltung in Dynamik und Ausdruck fordert, ohne gleichbedeutend mit piano zu sein.» (Riemann Musiklexikon)

«Und wenn die Stimme, die alte, schwächer werdende Stimme endlich schwiege, so wäre es nicht wahr, wie es nicht wahr ist, daß sie spricht, sie kann nicht sprechen, sie kann nicht schweigen. Und wenn es eines Tages an diesem Ort, wo es keine Tage gibt, der kein Ort ist, hervorgegangen aus der unmöglichen Stimme das nicht zu machende Sein gäbe und einen Beginn von Tageslicht, so wäre alles still und leer und schwarz wie jetzt, wie bald, wenn alles zu Ende, alles gesagt sein wird, sagt sie, murmelt sie.» (Samuel Beckett, Texte um Nichts)

In den Jahren 1972-74 schrieb ich drei Mikrodramen. Es handelt sich jeweils um kurze Bühnenstücke, um Dramen im Sinn von reduzierten und partiturmäßig ritualisierten End-Spielen zwischen Mensch und Umwelt bzw. Inwelt. Der intermediäre Effekt ist ein doppelter: Zum einen wird die Musik durch die Beziehung auf die szenische Situation und auf sprachliche bzw. sprachlich ausgedrückte menschliche Verhältnisse als bloße 'Musik' in Frage gestellt; zum anderen werden die sogenannten 'außermusikalischen' (szenischen und sprachlichen) Vorgänge dadurch, daß sie in den Spielraum der Partitur treten, mehrdeutig.

Im Mikrodrama "SÜLL", das ich 1972 für die Berliner Akademie der Künste schrieb (Uraufführung 1972 durch Eberhard Blum/Flöte, Helmut Krauss/Sprecher und Requisiteure) findet sich ein Instrumentalist (Flötist) mit seiner Musik, mit seinem Instrument am Ende, bzw. an einer ästhetischen Grenze, wo sich die gewohnten Dimensionen verschieben. Die scheinbar nebensächlichen Dinge, die Requisiten, verselbständigen sich. Sie überwuchern Musiker und Musik; quasi angesteckt von diesem Vorgang, entzieht sich das Instrument dem Instrumentalisten. Es wird unbegreiflich und irgendwie bedrohlich; es löst schließlich die Vernichtung der Musikübung aus. Über die Szene senkt sich, alles begrabend, ein großes weißes Tuch; die Musik erstickt in weißem Rauschen.

Die Mikrodramen II und III schrieb ich für den Sprecher Helmut Krauss, der sie 1973-74 in Darmstadt und Witten uraufführte.

Das Mikrodrama II "A & O" für einen Sprecher selbviert (4 Lautsprecher, Tonband und Requisiten) ist eine Collage mit Zitaten aus den verschiedensten Bereichen der Sprache und Literatur, vom Banalen zum Sakralen, von Buchstaben, (Föhrer) Grammatik und Umgangssprache zu Rimbaud, Grillparzer, deSade, Genet und Kafka, von Gregorianik und Bibel zu Wagner, Underground, Porno und Kitschroman.

Die Struktur ist polyphon, quasi Fuge: Themen als 'aufeinanderbezogene Gegensätze', wie Schwarz und Weiß, A und 0, Heiliges und Profanes, Anna und Otto, Liebe und Gewalt/Tod. Die Form ist zugleich entwickelnd, quasi Sonate: Exposition der Gegensätze, Verwirrung und Komplexierung, variierte Reprise.

Ein 'Mikrodrama' in 12 'Szenen':
Introduktion – Alphabet – A & 0 – banal/sakral – Liebe? – Verwirrung – Pathos (bis zur 'Wunde') – Krise/Schizophrenie? – Verwirrung/Liebe? – OTannaT0 – Auflösung – Grammatik/Alphabet

'A & 0' – diese Buchstaben haben konkret klangfarbliche und strukturelle Funktion:
4 Vokale: A über E und I zu O =
4 Farben: "A schwarz, E weiß, I rot, O blau" =
4 Stimmen in der Partitur (= 4 Masken/Mikrophone/Lautsprecher).
Darüber hinaus symbolisieren sie Anfang und Ende, Null und Unendlich.

Der Sprecher beginnt, indem er sich (frei nach Rimbaud) die einzelnen Laute, Gedanken und Erinnerungen zusammensucht:

«die geschichte
einer meiner marotten
seit langem
bilde ich mir ein
alle möglichen landschaften
in mir zu haben
profane
sakrale
erotische Bücher mit schlechter orthographie
die romane unserer großmütter
märchen
kinderbücher
banale schlager
naive rhythmen
ich träumte von kreuzzügen entdeckungen revolutionen
verschiebungen von völkern und kontinenten
ich glaubte jeden zauber
ich erfand
die farbe der vokale …»

'A & 0 für einen Sprecher selbviert': der Sprecher spricht (handelt) durch vier Masken = 4 Mikrophone = 4 Lautsprecher: seine verschiedenen Gesichter, Stimmen, Rollen, Situationen: "Sonderbar vermischte Situationen. Häufung mehrerer Rollen und Zustände auf  e i n e  Person zu  e i n e r  Zeit" (Novalis) Der Sprecher spricht (handelt) quasi mit sich gegen sich selbst. Er verwirrt sich in der Vielfalt seines inneren Labyrinths. Die Polyphonie wird zum Chaos, in dem er sich verstrickt. Seine verschiedenen Gesichter, Stimmen, Rollen, Situationen, die er durch die 4 Mikrophone und Masken auszudrücken versucht, treten in immer komplexere Beziehungen, vertauschen sich, verwirren sich, verwirren den Sprecher bis zur existentiellen Betroffenheit. An der aufbrechenden 'Wunde' (dem 'Schrei') wird deutlich, daß man die verschiedensten Bereiche der Welt und Sprache – vom Banalen zum Sakralen – nicht trennen kann, daß alles von allem betroffen ist. Nach dem Abklingen der äußersten existenziellen Betroffenheit (symbolisiert in der 'Wunde') und der anschließend auskomponierten Verwirrung bleibt am Ende nur noch ein Stammeln, wobei dieses Stammeln ein anderes ist als das des Anfangs.

Gegenüber der vieldeutigen Polyphonie von "A & 0" wirkt das Mikrorama III relativ eindeutig und monoton: "Anna K" / Informationen über einen Leichenfund für einen Sprecher, stummes Cello, große Trommel und Requisiten. Im Gespräch mit Hans Oesch (s.o.) erläuterte ich die Entstehung des Mikrodramas:

«Der kompositorische Anlaß war konkret: ein Ereignis, das ich der Zeitungslektüre entnahm und das mich beeindruckte, so daß ich es vertonen wollte. Im Laufe der Arbeit aber zeigte es sich – und zwar mit einer Konsequenz, die mir neu war und radikaler als in allen früheren Werken –, daß das sogenannte 'Vertonen', das Musikmachen nicht unproblematisch ist, wenn man einen außermusikalischen (gar politischen) Anlaß zum Ausdruck bringen will.

'Anna K' ist ein Name, den ich einem Artikel des Berliner Tagesspiegels vom 11. Januar 1974 entnahm: 'Informationen über einen Leichenfund verspätet an Senat und Alliierte'. Anna K war eine alte Frau, die von West-Berlin nach Ost-Berlin irrte, von Ost-Berlin zurückgeschickt nach West-Berlin, von West-Berlin nach Ost-Berlin, von Ost-Berlin nach West-Berlin usw., bis sie schließlich verreckte im Niemandsland zwischen den verschiedenen bürokratischen Systemen. Es war also eine ganz bestimmte Person an einem ganz bestimmten Ort zu einer ganz bestimmten Zeit.

Was mich betroffen machte, war die Anonymität dieses Schicksals, die Austauschbarkeit dessen, was jedem passieren kann, jederzeit, an jedem Ort. Ein anonymes Schicksal, das so unwichtig ist, daß es alle angeht, alle angehen sollte, weil niemand wichtiger ist. Und doch wurde es und wird es überspielt durch die Äußerlichkeiten, durch die Formeln und Ornamente der Umwelt.

Aus dieser Erfahrung resultierte zunehmend die Erfahrung der negativen Möglichkeiten des Komponierens: Komponieren als Wegnehmen, Weglassen. Die musikalischen 0rnamente und Formeln, die ich zunächst suchte und fand, verboten sich, wurden gestrichen. Dagegen stellte ich die Aussage des besagten Zeitungstextes in bewußt ostinater Weise mitten in den Formelkram, der in den verschiedenen Berliner Tageszeitungen desselben Tages (in den politischen Schlagzeilen, Reklamefetzen, sentimentalen Schablonen) begegnete, und gegen den leerlaufenden Anspruch klassischer Lyrik.»

Das Mikrodrama 'Anna K' gliedert sich äußerlich in drei Teile:

Im 1. Teil erfährt sich die Musik szenisch als ausweglos, durch verstummende Instrumentalisten, durch einen verhüllten Sprecher, der in einer monotonen abgründigen Kinderformel ("annemarie / fall auf die knie / steh wieder auf / mach einen lauf") steckenbleibt, und durch ein leerlaufendes Tonband.

Der 2. Teil rückt die 'Informationen über einen Leichenfund' vom 11. Januar 1974 in den Kontext zu Zitaten aus den verschiedenen Berliner Tageszeitungen desselben Tages (vorwiegend Anzeigen und Schlagzeilen) und zum falschen Pathos aus Goethes "Höre den Rat, den die Leier tönt".

Der 3. Teil kontaminiert den unvereinbaren Gegensatz von (natürlicher) Liebe und (unnatürlichem) Tod durch eine Passage des Hohenliedes – "kehre wieder kehre wieder o Sulamith" – und eine Zeitungsnotiz vom 7. März 1974 über eine Hinrichtung in Franco-Spanien durch die Garrotte: "ein würgeeisen um den hals gelegt".

Ein Mikrodrama in drei Szenen, in zunehmender Demaskierung, in zunehmender Beengung, wo es einem die ästhetische Sprache verschlägt.




'Instrumentales Theater' – 'Instrumentierte Poesie'

Die "Szene über einen kleinen Tod" für Frauenstimme, Flöte und Violoncello (mit Becken und Tonband ad lib.) entstand 1973/74 für das Stuttgarter Ensemble für Neue Musik (Hanna Aurbacher / Mezzosopran, Gerhard Braun / Flöte und Werner Taube / Cello). Die 'Szene' spielt vielleicht, wie Erhard Karkoschka schreibt, "schon  n a c h  dem Tod in einem Danteschen Zwischenreich". Vielleicht ist sie auch, wie Fritz Muggler nach der Züricher Uraufführung 1975 in der NZZ schreibt:

«ein neues Stück jener von Döhl geschaffenen neuen Art des Instrumentalen Theaters, die – ohne auf das Geschichtenerzählen zurückgreifen zu müssen – wieder außermusikalische 'Bedeutung' erschließt.»

Sie erscheint wie eine surreale Traumszene, in der sich verschiedene Assoziationen zum Thema Tod vermischen, unter Benutzung von Zitaten aus Theodor Lessings 'Haarmann / Die Geschichte eines Werwolfes' (1), Grimms Kinder- und Hausmärchen (2, 3), Grillparzers 'Medea' (4) und dem Klappentext eines Kriminalromans (5).

«Riechen kann ich es heute nicht, denn ich habe den Schnupfen. Aber das sieht ja ein Blinder: Es sind Schweineschwarten (1)

… hat das eine Kind zum andern gesagt: du sollst das Schweinchen und ich der Metzger sein. (2)

Min Moder de mi slach't, / min Vader de mi att, / min Swester de Marleeniken / söcht alle mine Beeneken / un bindt se in een siden Dook, / legts unner den Machandelboom: / kywitt, kywitt! ach watt een schön Vagel bin ick! (3)

Und immer glaub' ich, jetzt und jetzt und jetzt / muß sie sich zeigen weiß in ihrer Schönheit / herniedergleitend durch die schwarzen Trümmer. / Wer war dabei? (4)

Wenn / Fische reden könnten / würden sie singen / wie der Schleierschwanz in die Wanne / die Revolverkugel in das Aquarium / die Lupe neben die Leiche / der Klecks … Wenn / Fische reden könnten / woher die tödliche Seuche … (5)»

Die Texte sind Ausdrucksträger der Musik. Die Musik wird von der Morbidität der Texte infiziert. Durch die gegenseitige Beeinflussung entsteht dann doch so etwas wie eine (abstrakte) Geschichte: 'Hastiges Flüstern' zu Beginn zwischen Stimme und Cello. Die Flöte nähert sich von außen. Es resultieren eine 'erregte' Auseinandersetzung und verschiedene Stationen der Begegnung – 'lamentoso', 'unruhig bewegt', 'energico', – inmitten beruhigend, doch jeder für sich, – dann wieder 'energico/agitato/exaltiert' bis 'quasi geschüttelt', 'lamentoso', 'flüchtig, nervös' – und schließlich 'smorzando', ersterbend in 'fremden Klängen'.

Die 3 Musiker – Frauenstimme, Cello und Flöte – sind einerseits  e i n  "Klangkörper", ineinander verflochten. Andererseits sind sie permanent veränderbar und verändert in ihrem Verhältnis zueinander. Dem entsprechen ihre Positionen auf der Bühne im Verlauf des Stückes: zueinander, miteinander, gegeneinander, voneinander weg, jeder für sich, – zum Publikum, vom Publikum weg. Die Inbeziehungen der Musik wie der Musiker sind veränderbar, das heißt auch: störbar und zerstörbar. Am Ende erstarren sie in totaler Isolation. (Doch sind die 'fremden Klänge' in denen sie erstarren,  s y n c h r o n  zu spielen!)

Der Titel 'Szene über einen kleinen Tod' war das Ende eines Traums – und der Beginn der Komposition.

Auch einige Klavierkompositionen kann man – mit dem Vorbehalt der Vieldeutigkeit = Selbstständigkeit der Musik – als 'instrumentales Theater' verstehen.

1976 komponierte ich "Odradek" für 2 offene Flügel und brachte es im selben Jahr mit Jean-Jacques Dünki zum 70. Geburtstag von Paul Sacher in Basel zur Uraufführung. Wie in der 'Cadenza' geht es auch hier um die 'Landschaft' im Inneren des Flügels, doch unter einem – im Titel angedeuteten – poetischen Vorzeichen. Die Musik ist quasi auf der Suche nach dem geheimnisvollen Wesen 'Odradek', das Kafka in seiner Erzählung 'Die Sorge des Hausvaters' beschreibt, ohne freilich Gewähr zu bieten für seine Existenz:

«Wie heißt du denn? fragt man ihn. "Odradek" sagt er. Und wo wohnst du? "Unbestimmter Wohnsitz", sagt er und lacht; es ist aber nur ein Lachen, wie man es ohne Lungen hervorbringen kann.»

Im Titel nicht benannt, hinterläßt auch Trakls Gedicht 'Grodek' in der Partitur seine Spuren, welche die Suche nach Odradek begleiten bzw. kontrapunktieren: "die wilde Klage ihrer zerbrochener Münder", "die dunkeln Flöten des Herbstes".

Im Programm der Basler Uraufführung schrieb ich:

«Odradek ist ein merkwürdiges Wesen, das in Kafkas Erzählung 'Die Sorge des Hausvaters' sein Unwesen treibt. Aus Sympathie für dieses Wesen gab ich meiner Komposition den Namen Odradek. Vielleicht hat die Komposition auch etwas von Odradek angenommen, ist selber etwas Odradek. Andererseits weiß man ja auch in der Erzählung von Kafka nicht ganz genau, wer oder was Odradek nun eigentlich ist. Odradek lässt sich nicht festlegen. Auch das Klavierstück möchte nicht als eindimensionale Programm-Musik mißverstanden werden. Zwar bewegt es sich wie Odradek vorzugsweise auf Nebenpfaden, auf unüblichen Wegen, in dem an sich sonst eher verborgenen und wenig systematisierten Inneren des Flügels. Zwar gibt es mitunter Assoziationen oder auch ganz konkrete Textbezüge, wie z. B. auf die Saiten 'geschriebene' Worte. Wenn man sich in das Innere des Flügels begibt, begibt man sich in eine abenteuerliche Klanglandschaft, die vielleicht Odradeks Dachböden, Treppenhäusern und Fluren entspricht. Da sind noch unbekannte Ebenen und Richtungen. Auch zwischen Raum und Zeit. Man wird ein wenig unsicher, – die Vieldeutigkeit von Form und Klang, die andere Seite auch hinter dem Spiel, die ja auch in dem 'Lachen' Odradeks ist, wie man es nur 'ohne Lungen hervorbringen kann'. Unter den 'ineinander verfitzten Zwirnstücken', die Odradek hinter sich herzieht, sind vielleicht auch jene dunkleren aus Trakls 'Grodek' nicht zu übersehen bzw. zu überhören.»

Die ersten Skizzen zu den "8 Portraits" für Klavier entstanden in einer Winternacht 1977, beim Hören Wagnerscher Musik, der 'Blumenmädchen'-Szene im Parsifal, in Erinnerung an 8 Frauen (notiert in einer Art 'automatischer Niederschrift'). Da diese nur Anlass, nicht 'Programm' waren, benannte ich die Stücke zunächst nach Blumen, die ich den verschiedenen Frauen zuordnete. Doch verbannte ich dann die Blumennamen in Klammern unter die Stücke, um Mißverstehen zu vermeiden. Die 8 Portraits sind also ohne Titel, wollen als Musik sprechen, als 'Portraits' einer 'zweiten' (musikalischen) Natur.

In vielen meiner Kompositionen spielt der Traum eine auslösende oder begleitende Rolle. So explizit in den "3 Traum-Stücken" für Klavier, die quasi Traumprotokolle sind. Das heißt: Die Komposition ist der Versuch, den Traum festzuhalten bzw. musikalisch zu imaginieren, wobei Klang und Bild untrennbar ineinander spielen und die 3 'Stücke', auch wenn sie sukzessiv notiert erscheinen, 'sur-real' eine Einheit sind. Der Partitur habe ich daher folgenden Text vorangestellt:

«Entstanden am 30. 3.1978 aus einem Traum, der eine klang-bildliche Einheit war.

I Frost

Ein Klang, der Frost ist,
bzw. Frost in Gestalt von Klang.
Stille, eine weite leere Ebene, Frostklang, Klangfrost.

II Leere Schritte/Leere Brücke

Aufsicht auf eine leere Brücke.
Man hört Schritte, sieht aber niemanden. Schritte ohne Körper.

III Tod waagerecht/senkrecht

Blick auf eine Bühne,
ein schwarzer Flügel, weit geöffnet,
daneben auf einer Liege ein Toter,
starr liegend, plötzlich sich aufrichtend, starr sitzend.»


Auch "IKAROS / Ballett für Orchester" könnte man als 'instrumentales Theater' verstehen. Die Komposition entstand in Basel 1977 spontan, ohne Skizzen, gleich als Orchesterpartitur (Uraufführung 1980 durch das Basler Sinfonieorchester unter der Leitung von Moshe Atzmon). Die Form ist einsätzig, ohne thematische Entwicklung und Durchführung im klassischen Sinn. Eine Art informelles musikalisches Gedicht, auf 10 Minuten reduziert, mehr nach innen als nach außen tendierend.

Der Titel 'Ikaros' bezieht sich auf ein Gedicht des schwedischen Dichters Erik Lindegren (auf das mich Karen Lindegren in den Berliner Jahren aufmerksam machte). Ikaros, nach mühsamem Beginnen, schwingt sich endlich auf, durch das "Labyrinth der Winde", einsam, "zu einer immer klarer und klarer werdenden Sonne, die immer kühler, immer kälter wird, hinauf in sein eigenes frierendes Blut" – und stürzt schließlich, "ohne Wirklichkeit geboren".

Doch ist das Gedicht nicht vorgegebenes Programm, sondern korrespondierender Partner der Musik, als vieldeutiger Spiegel des Komponierens heute, einer Utopie vielleicht. Der Untertitel "Ballett für Orchester" meint nicht eine nachzutanzende Geschichte, sondere die innere Bewegug der Musik, konkretisiert als musikalische Gestik des Orchesters: Das Orchester als organisches 'Wesen', das – wie ein riesiges Insekt – auf dem Boden liegend, 'fühlert', tastet, sich aufrichtet, stammelt, singt, abhebt, fliegt, aufsteigt, – und wieder stürzt, krank liegt, kaum nocht atmet, – "ohne Wirklichkeit geboren".


Instrumentierung des Vokalen

– wie schon die Stimme in der "Szene über einen kleinen Tod" und wie, anders, in den 'Mikrodramen'. Detlef Gojowy nennt die Mikrodramen "A & O" und "Anna K" die "glücklichsten Entdeckungen" der Wittener Tage für neue Kammermusik 1974 und versteht sie als "instrumentierte Poesie":

«experimentell in jenem Sinn, daß neue Fragen gestellt, neue Bewußtseinsinhalte künstlerisch erprobt werden. Sprache unterliegt der Zersplitterung, Reflexionen und kontrapunktischen Engführungen.»

Als 'instrumentierte Poesie' erschiene dann auch "Auf schmalem Grat" / Requiem für 6 Stimmen, entstanden im November 1978 im Auftrag des Radios DRS und durch das Collegium vocale Köln unter Leitung von Wolfgang Fromme am 30. Mai 1979 in Basel uraufgeführt. Textvorlage ist eine frühe Fassung des Gedichts "Himmelsnähe" von Conrad Ferdinand Meyer. In dieser Fassung stehen noch verschiedene Textvarianten übereinander, unfertig, verworren, – aber auch offen. Gerade diese unfertige wie komplexe Fassung reizte mich zur Komposition: also die Mehrschichtigkeit des Textes in die Mehrstimmigkeit des Chors zu überführen. Der Textbeginn "Auf schmalem Grat" ist nach meinen Programmnotizen zu einer Aufführung in Witten 1980:

«zugleich Chiffre für unsere Existenz zwischen Nichtleben und Leben und Tod. 'Lagerplatz … von Abgrund umgränzt'. (Ob allerdings 'Himmelsnähe', ist hier durchaus nicht gesagt.) – Ein 'Requiem', doch kurz, ohne Arien, 'auf schmalem Grat':

Auf(hohem)Grat bin ich gelagert hier
 schmalem
In der Gebirge(blendend) (weissem)Kreis
 weissgezacktem
(…)

In beiden Tiefen mir zu(Füssen) glänzt
 Fusse
(Vom) Abgrund ist mein Lagerplatz(t) (be)gränzt
(Von)um
Von
Ein nah getrenntes Paar von(blauen) Seen
 (reinen?)
 (grünen)
 (kleinen)
 (hellen?)
 (grünen)
 kleinen
(Vom Felsenjoch getrennt. Ein Paar von)
In beiden Tiefen(schimmern) blaue Seen
 leuchten
Mit Alpenrosen ist mein Sitz bekränzt,
Mein Blut ist kühl u: meine Haare weh'n»

Wende

Nach meinen Berliner Jahren und durch meine Tätigkeit als Direktor der Musik-Akademie Basel war Ende der 70-ger Jahre ein gewisser Schaffensstau entstanden, was die Komposition größerer Werke angeht. 1980 komponierte ich für Donaueschingen ein "Fragment I (Kyrie eleison)" für Orgel. Es erscheint mir rückblickend als eine Schnittstelle zwischen früheren Erfahrungen und der weiteren Entwicklung. Über Jahrzehnte folgten dann weitere "Fragmente": II Gloria, III Offertorium, IV Agnus dei, V Ite missa est, immer komponiert für Zsigmond Szathmáry, der sie auch jeweils uraufführte. Die Folge der "Fragmente" rundete sich schließlich 2006 zur "Orgelmesse", mir deutlich machend, daß Kompositionen nicht nur punktuell entstehen können, sondern auch in größeren zeitlichen Abständen, in Jahresringen. Erste Gesamtaufnahme 2009 durch Szathmáry in St. Peter Köln.




Symphonie für Cello und Orchester
"wie im Versuch, wieder Sprache zu gewinnen"

entstand im Kompositionsauftrag des Saarländischen Rundfunks. Uraufführung Saarbrücken 31.5.1981 (Heinrich Schiff, Rundfunkorchester Saarbrücken, Leitung: Hans Zender).

Aus dem Programmheft der Uraufführung:

«Das Solo-Cello hat nicht nur 'solistische' Aufgaben, sondern ist im Gewebe der Orchesterpartitur Mit-Träger der symphonischen Idee und Form. Daher der Titel "Symphonie".

Ein Keim der Komposition war ideell wie musikalisch eine Regieanweisung Wagners, Kundry betreffend: "wie im Versuch, wieder Sprache zu gewinnen" (Parsifal, 2. Akt).

Der Versuch, "wieder Sprache zu gewinnen", mag ein aktuelles Anliegen der Musik heute sein.

Primär waren es ganz persönliche 'endspiel'-hafte Erfahrungen, die mich zum neuen "Versuch" führten, – in unlösbarer Korrespondenz mit den früheren Orchesterwerken "Melancolia", "Zorch" und "Ikaros", – im permanenten Dialog mit denen, die mir wichtig waren in Gegenwart und Vergangenheit, wie Wagner, Mahler, Schönberg, Webern (oder auch Novalis, Hölderlin, Trakl, Ungaretti), – Schichten der musikalischen Sprache.

Aus dem symphonischen Keim, dem Stammeln der aus dem Urschlaf geweckten Kundry (bei Wagner eigentümlich ausgedrückt in sechs chromatisch isolierten Einzeltönen "ach! ach! tiefe Nacht… Wahnsinn…") erwachsen im Verlauf der Symphonie mannigfache Beziehungen bis hin zum kanonischen "Canto amoroso" im Finale. Eine form-psychologische 'Kundry-Symphonie'!

Satz I: "Hymne an die Nacht". Aus einfachen Elementen – Ton und Figur, Ruhe und Bewegung – wächst die Form zu vielfältig kontrapunktisch und harmonisch strukturierten Feldern. Rückführung zum Ausgangspunkt, der nicht mehr derselbe ist.

Erster Entwurf 1977 in einer Nacht an der Nordsee: Übergang von Himmel und Meer, Schwärze: voller Farben.

Satz II: "Lamento" / 'Adagio quasi in tempo di marcia funebre'. Geschrieben im Gedanken an den Tod nahestehender Menschen. Andere Zeiten und Räume werden eingeschoben. Trauer, die – über Trotz und Sehnsucht – die Möglichtkeit des Trostes nicht ausschließt.

Satz III: "Intermezzo / Traum-Stück". Entstanden als kurzer Epilog zum "Lamento". Resultierend aus einem Traum-Bild, das zugleich Klang war.

Hymne, Lamento, Traum – als Voraussetzungen der finalen 'Fantasie', die in freier Assoziation die Gegensätze durcheinander bringt, auf die Bedingungen des eigenen Selbst horchend, des offenen Gehäuses:

Satz IV: "Quasi una fantasia" / 'Presto agitato'. Von der Null-Linie einer Bewegung, in sich strukturiert: Entwicklungen, verschiedene Anläufe zu Höhepunkten, die keine bleiben, Neubeginne, 'Sprach'-Ansätze des Solocellos, Ungarettis "leuchtende Augenblicke" (Cadenza des Solocellos, begleitet von Cello und Harfe), Trakls "Nachttürme" (Stretta von Solocello und verschiedenen Instrumenten). Klang-Geschichte, Klang-Modulation – über 'Anklänge' an Berg – zu Wagner: Amfortas' "Wunde", mündend in den "Canto amoroso" (ein 10-stimmiger Doppelkanon der hohen Streicher, basierend auf einer, aus dem Stammeln Kundrys durch Spiegelung abgeleiteten Reihe), wie das Espressivo des Solocellos zusammengefaßt und aufgehoben im Tutti-Akkord (aus der symmetrisch vertikalisierten Kundry-Reihe).» (FD)

Dietrich Fischer-Dieskau schrieb mir später ermutigend: "Da haben Sie nicht Sprache gesucht, sondern sie gefunden. Wir alle ringen um Sprache, und wie selten wird sie uns gegeben."




Tombeau – Passion – Winterreise – Sommerreise

"TOMBEAU / Metamorphose für großes Orchester" entstand 1982/83 im Auftrag des Vereins der Musikfreunde Kiel zum 75-jährigen Jubiläum des Philharmonischen Orchesters der Stadt Kiel (Uraufführung Kiel 27./28.2.1983, Leitung: Klaus Weise).

Aus dem Programmheft der Uraufführung:

«"Salut für Kiel" sollte das Auftragswerk des Vereins der Musikfreunde in Kiel zum 75jährigen Bestehen des Philharmonischen Orchesters der Stadt Kiel (1983) ursprünglich wohl heißen, und "Salut" heißt auch noch die erste der sieben "Stationen", die das Werk durchläuft. Stationen, die fugenlos ineinander übergehen. Dann aber traten existentielle Erschütterungen ein, die die Komposition nicht unbeeinflußt ließen. Nacht- und Todesfarben beschäftigten aufs tiefste den Komponisten, der seine Musik nicht in einem sterilen, luftleeren (Kopf-)Raum herstellt, sondern an den ihn umgebenden Dingen und Ereignissen teilnehmend diese in seine Arbeiten hineinrinnen läßt, was den Kompositionen die spezifischen Farben, den charakteristischen Ausdruck gibt.

So entstand in "Tombeau" ein doppelbödiges Stück Musik als "Ausdruck der persönlichen Betroffenheit" – kein tragisches Stück, wie der Titel ("Grabmal") suggeriert, aber eben auch kein fröhliches, heiteres Geburtstagsgeschenk, wie man vielleicht erwartet hätte. ("Es ist wahnsinnig schwierig", räumt Döhl ein, "heutzutage heitere Musik zu schreiben.")

Den Titel im übrigen versteht Döhl nicht unbedingt im traditionellen Sinn, also als Bezeichnung für Musik zum Gedächtnis anderer Komponisten: dennoch haben in "Tombeau" bestimmte musikalische Orte der Vergangenheit ihren Platz. Zum Haupttitel gehört unablösbar der Untertitel "Metamorphose". Damit meint Döhl ein Doppeltes: zunächst Komposition als "Anverwandlung" und "Verwandlung" von Erlebtem und von Geschichte; dann musikalische Form als "Wandlungsform", als "organischer Prozeß". Metamorphose in sieben Stationen:

"Salut – Genesis – Bisbigliando – Stabile – Canto – Mobile immenso – Kondukt".

"Salut" (1) also zu Beginn, allegro con brio, mit vier Trompeten, die den einleitenden Fanfarenruf aus Schumanns erster Sinfonie intonieren, transformieren. Damit ist ein für die gesamte Komposition wichtiges stilistisches Mittel ausgewiesen: das musikalische Zitat. Die zitierten Motive (die man ganz selten wiedererkennen wird) sind "integrierender Bestandteil der Komposition, meiner Sprache" (Döhl), sie werden wie Fäden in das musikalische Gewebe einbezogen, bis sie miteinander und mit dem Stoff untrennbar zu einem neuen Ganzen verschmolzen sind. – "Genesis" (2), die nächste Station, tranquillo, ist die "Geschichte eines Tons", des Tons h, der sich aus einem Tonknall herausdefiniert, aufgefächert wird, sich verzweigt zu verschiedenen Klängen und Klangfarben, Bewegungen und Gegenbewegungen, Verflechtungen, dynamischen Entwicklungen. – "Kaum hörbar" erfolgt der Übergang ins "Bisbigliando" (3), einer kurzen Passage, durchweg im Pianissimo, wispernd, wie es das italienische Wort ausdrückt, ein vorbeihuschendes "atmosphärisches Feld". – "Stabile" (4), das vorherige Allegro beibehaltend: eine Art stehende Bewegtheit, wechselndes dynamisches An- und Abschwellen, wie (innere) Bewegung von Wellen oder menschlichem Atmen. – "Canto" (5), ein Klangraum kleiner Motive, Gesang des Orchesters, übergehend ins "Ge-Schichten-Karussell" des "Mobile immenso" (6), das zugleich ein riesiger auskomponierter Klangkomplex ist. – Schließlich "Kondukt" (7), Tempo di marcia funebre, ein langsames, aber unerbittliches Orchester-Crescendo, spiralförmig sich steigernd in einen alles zermalmenden Klang-Ausbruch – nach einer atemlosen Generalpause verklingen die Trommeln im Unhörbaren.» (Wolfgang Binal)


"PASSION. Für Orchester" entstand 1984 im Auftrag des Norddeutschen Rundfunks für die 'Tage der Neuen Musik Hannover 1985' (BACH-Jahr). – Aus dem Programmheft der Uraufführung (Leitung: Othmar Mága) am 1.2.1985:

«Der Titel "Passion" ist in seinem mehrdeutigen Sinn zu verstehen, wie ich ihn einerseits in Bachs Matthäus-Passion wiedergespiegelt finde, hier besonders im letzten Choral in der Zeile "wenn mir am allerbängsten", andererseits in Trakls Gedicht "Passion". – Meine Musik ist auch 'Medium der Selbstbegegnung'. Daß sie sich hier zugleich auf Bach und Trakl bezieht, ist kein Widerspruch. Auch Bach und Trakl sind für mich 'aktuell' – als 'Medium der Selbstbegegnung'. Die Perspektiven von Bachs und Trakls "Passion" bedingen sich, vertauschen sich (Trakls "Passion" – Bachs Traum? Bachs "Passion" – Trakls Er-Innerung, wie der Orpheusmythos? Bach – der Expressionist? Trakl – der Mystiker?). In der Wechselbeziehung beider erkenne ich mich, meine 'Umwelt', unsere Betroffenheit: "wenn mir am allerbängsten", "wandelnd an den schwarzen Ufern", "schauen wir uns am Kreuzweg" …» (FD)


Verwandt mit der "Passion" ist mein Streichquintett "WINTERREISE", auch wegen des inhaltlichen Bezugs zu Trakl und wieder in Verbindung zu einem Komponisten, in diesem Fall Schubert. Der Komposition des Streichquintetts geht ein tragisches Erlebnis voraus, der Tod eines Sängerfreundes, auf den ich zunächst nur quasi 'stammelnd' reagieren konnte, – mit 7 'Bruchstücken', die ich dem Klavierbegleiter des Sängers, Manfred Fock, schickte. Der gedruckten Partitur stellte ich folgende Notiz voran:

«Die "Bruchstücke zur Winterreise" entstanden in memoriam Karl-Heinz Pinhammer, der am 2. Mai 1985 tödlich verunglückte. In seinem letzten Konzert stellte Karl-Heinz Pinhammer Schuberts "Winterreise" und meinen Hölderlin-Zyklus "… wenn aber…", den ich 1969 als 'eine andere Winterreise' imaginiert hatte, nebeneinander.

In den 'Bruchstücken zur Winterreise' habe ich komponiert, was nach Konzert und Tod des Sängers im Spiegel der Erinnerung, gebrochen, doch manisch kreiste, quasi als Decollage der 7 Schubertschen Stationen: "Gute Nacht, Einsamkeit, Der greise Kopf, Die Krähe, Im Dorfe, Der Wegweiser, Der Leiermann".

Zwischen den 7 Bruchstücken sind längere, individuelle Pausen geboten. Jedes Bruchstück kommt aus dem Nichts, geht ins Nichts.»

"Winterreise. Streichquintett" entstand 1985 im Auftrag von Radio Bremen für die Bremer 'Schubert-Tage 1986' (Uraufführung am 19.3.1986 durch das Auryn-Quartett mit Boris Pergamenschikow am 2. Violoncello). Aus meinen Programmnotizen der Uraufführung:

«Der Titel 'Winterreise' meint unsere aktuelle menschliche Situation. Die Komposition ist somit auch autobiographisch. Darüber hinaus bezieht sie sich im materialen Vorfeld einerseits auf Schubert (auf das Streichqintett, dem schon die Besetzung mit 2 Violoncellli entspricht, und auf den Zyklus 'Winterreise' bzw. auch auf meine 'Bruchstücke zur Winterreise'), andererseits auf 7 Gedichte Trakls, in denen ich eine innere Verwandtschaft zur 'Winterreise' empfinde.

Die Komposition ist einsätzig. Sie gliedert sich in 7 Stationen, die in gewisser Hinsicht mit den 7 Trakl-Gedichten korrespondieren:

1   Presto   ('Melancholie')
2   Sostenuto   ('De profundis')
3   Presto desolato   ('Trompeten')
4   Sostenuto   ('An die Schwester')
5   Adagio   ('Nachts')
6   Presto quasi maniaco … Presto infocato   ('Nachtwandlung')
7   Sostenuto … Canto animato   ('Nachtergebung').

Die 7 Stationen folgen 'attacca' aufeinander.
Die 5 Instrumente sind weniger 'solistisch' als 'symphonisch' vorgestellt.»


"SOMMERREISE. Klavierkonzert" entstand – gewissermaßen als Gegenstück zur "Winterreise" – in zwei Schüben 1993/1997, im Auftrag des Schleswig-Holstein-Musik-Festivals. Das Programmheft der Uraufführung am 24.7.1997 zitiert aus meinem Brief an Rudolf Buchbinder vom 15.4.1997:

«Lieber Rudi, hier die Partitur … Satz I (ALLEGRO) steht mehr in C, Satz II mehr in Fis. Beides aufeinander bezogen. Der Tritonus spielt immer wieder eine wichtige Rolle, tonlich und 'tonal'. In Satz II (ADAGIO) kommt es immer mehr zur Synthese von der C- und Fis-Landschaft. Der 1. Satz ist durchweg 'musikantisch' (Dauer ca. 6'), 'konzertant' irgendwie, wie die "Brandenburgischen" von Bach. Das Zusammenspiel bzw. konzertante Ineinander von Piano und Orchester ist sehr wichtig. (Gilt dann auch für den 2. Satz.) Wenn auch das Werk – wie ich hoffe – eine in sich stimmige 'Wuchsform' ist (um ein Wort Weberns zu zitieren), so hat es – trotz der beabsichtigten scheinbaren "Leichtigkeit des Seins" – vielfältige interne Zusammenhänge, auch diverse Allusionen, von denen du einige unschwer erkennen wirst. So wächst der erste Satz – in ständig schneller Bewegung – "ALLEGRO" – aus dem Ton C, der Obertonreihe, Czerni begegnet einem Indianer, Medea kommt hinzu, die C-Landschaft wird immer mehr chromatisiert, am Horizont schwebt das griechische Seikilos-Lied vorbei, die Sache wird etwas kompliziert, bevor das Indianer-Lied, hymnisch gesteigert, abschließt.

Der zweite Satz (Dauer ca. 15') – zunächst durchaus eine Kontrastfläche zu Satz 1 – ist zu Beginn (und ganz anders gegen Ende) "ADAGIO", sehr breit, ein quasi stehender Klang, eine changierende Fläche wie eine sommerliche Himmellandschaft oder Seeoberfläche, mit Spuren darin, ganz kleinen Entwicklungen, permanente Klangfarben-Melodie … Dann – als ob sich eine Farbform-Achse gedreht hätte – subito ff – eine Akkord-Repetitions-Fläche, sich kontinuierlich zusammenschiebend, dann in virtuos bewegte Klangfelder mündend ("VIVACE"). Danach wieder ein Umschlag, auch ein Stimmungsumschlag – bedingt durch die Korrespondenz mit meinen 1996 komponierten Celan-Balladen für Klavier: "PRESTO", quasi eine Ballade, piano beginnend, sich steigernd (über die sehr schnellen! 16-tel-Sextolen im Klavier) zum Stau im "Meno mosso, pesante", wie ein trotziges Landsknechtlied, das sich wiederum staut in einer Akkordrepetition, die umschlägt in eine Art Boogie, dieser wieder gesteigert bis zur Klavier-"CADENZA", in der sich Schönberg, Mozart und Schubert (Winterreise) begegnen. Dann ein letztes Mal eine Steigerung – bis zum geballten ff-Wechsel zwischen Orchester und Klavier. Danach ein Epilog – mit kurzen Erinnerungen an frühere Elemente – bis zum abschließenden 'Klangrad', C- und Fis-Fläche clusterhaft vereinend und gegen Ende überschwallt vom chromatisch crescendierenden Klavier …»

Im der "Sommerreise" kommt, zum Teil spielerisch 'konzertant', zusammen, was schon in meinen früheren Orchesterwerken Bestandteil des Komponierens war: die Korrelation von Klang und Form (z.B. in Satz I die Entstehung der Form aus Ton, Repetition, Obertonreihe, Sklala, Dreiklang, Mixtur), die Einbeziehung anderer Musik (so ganz eigen in der 'Cadenza' von Satz II, die – den Sinn der Kadenz neu deutend – vom Heute über Schönberg und Mozart zu Schuberts "Winterreise" moduliert – und dann wieder zurück zum Heute. – Umgekehrt meine "Kadenzen zu Mozarts Klavierkonzert d-moll", die von Mozart in die Moderne und wieder zurück zu Mozart modulieren.)




Musik zum Film – BALLET MÉCANIQUE
(Hommage à la laveuse inconnue)

Die Komposition "Ballet mécanique" entstand 1983/84 auf Anregung von Dr. Wilfried Brennecke und Dr. Lothar Prox im Auftrag der Stadt Witten für die Wittener Tage für neue Kammermusik 1984 (Uraufführung durch das Ensemble modern, Leitung Bernhard Wulff). Die Komposition steht, nach meinen Programmnotizen zur Wittener Uraufführung:

«in Korrespondenz zum Film 'Le ballet mécanique' (1924) von Fernand Léger, und zwar zur kolorierten Fassung (Stichting Nederlands Filmmuseum Amsterdam). Vorführungstempo: 18 Bilder/Sek., Aufführungsdauer Film (Titel bis ,Einde'): 14'25", Aufführungsdauer Musik (mit 'Vor'- und 'Nachklang'): ca. 15'30". – Légers Film, der "erste Film ohne Drehbuch" (ohne 'story') läßt sich in 5 (nach Léger in 7) Abschnitte mit gemeinsamer Charakteristik gliedern:

'Schaukel', prismatische Brechung, 'Mensch und Maschine', Zahl und Text-Fragment, 'Puppen/Küchen/Requisiten'.

Die Komposition korrespondiert mit dem Film – analog und kontrapunktisch – auch im Formalen. Sie operiert, ähnlich dem Film, mit den Mitteln: kürzere/längere Einstellung, schnelleres/langsameres Tempo, prismatische Brechung, Vergrößerung von Ausschnitten, Wiederholung/Sequenz/Variation, Interpolation, Permutation, Vorwegnahme/Rückerinnerung, Collage (Beziehung von vorher Unbezogenem). –

Der Film kann und will, als "Film ohne Drehbuch", autonom für sich sprechen, auch wenn Léger eine Begleitmusik suchte und zur Zeit der Entstehung George Antheil bemühte. (Antheils 'ballet mécanique' entwickelte sich dann relativ unabhängig, ist nicht 'synchron' zum Film.)

Meine Komposition läßt sich nun einerseits genau auf den Film und seine zeitlichen Proportionen ein. Andererseits hat die Musik-Zeit – wie die Film-Zeit – eigene Gesetze, hat die Musik – wie der Film – eine eigene (Psycho-)Logik. Eine ästhetische Doppelung ist weder sinnvoll noch beabsichtigt, sondern ein Dialog (wobei der schon fertige Film nur noch in der weiterführenden Fantasie des Betrachters verändert werden kann), Kontrapunkt – bis zur Infragestellung. Die Musik geht in den Film hinein, durch ihn hindurch, um ihn herum – entfernt sich auch, indem sie sich nähert – spricht mit ihm, gegen ihn, für sich selbst – und für andere, wie für die Wäscherin, die der Film (in einer zentralen Szene zwischen einem isolierten, mechanisierten Lächeln und der monotonen Bewegung von Maschinenkolben) 22mal eine Treppe heraufsteigen läßt, wie ein 'mechanisiertes' Objekt. – Also keine 'Begleitmusik', sondern autonom, nach menschlichem Maß, nur bedingt 'mechanisierbar', Dialog 'pour les hommes', Hommage "à la laveuse inconnue"! – Die Musik ist auch, unabhängig vom Film, konzertant oder als Ballett, aufführbar.»




Musik im Raum

Bei meinen Kompositionen ist oft der Raum mitgedacht, besonders bei denen, die primär für einen bestimmten Raum komponiert wurden, wo die Instrumente/Interpreten im Raum verteilt sind, den Raum besetzen und akustisch gestalten, zum Beispiel in Hallen oder Kirchen. Die Partituren sind so notiert und so vieldeutig, daß sie variabel an verschiedenen Orten aufgeführt werden können, in lebendigem Miteinander/Gegeneinander, evtl. auch ohne Dirigenten.

Die Raum-Kompositionen entstanden in unregelmäßiger Folge, oft aus bestimmtem Anlaß. So die 'Albumblätter' I und II für 1-10 Flöten, die ich 1963 für die Flötenklasse von Gustav Scheck in Freiburg schrieb, die 'Klang-Szenen' I und II, die ich mit Günther Uecker 1970 und 1971 für die Kunsthalle Düsseldorf und die Nationalgalerie Berlin entwickelte und inszenierte, 'Posaunen im Raum' und 'Flöten im Raum' 1989/90 für das 'Medea-Projekt' in St. Petri Lübeck, 'Moin moin' für 7 Schlagzeuger und 4 Posaunen 1993 zur Einweihung des Großen Saales der Musikhochschule Lübeck, 'Cubecracks' für 4 Schlagzeuger 1996 zur Eröffnung einer Ausstellung von HD Schrader in St. Katharinen Lübeck, 'Graduale' für 2 mal 4 Posaunen 1999 für die Tage 'Begegnungen' in St. Petri Lübeck, 'Klarinetten im Raum' 2003 zur Eröffnung der neuen Lübecker Kunsthalle St. Annen.


Klang-Szenen I und II

1969 diskutierten Günther Uecker und ich in langen nächtlichen Sitzungen eine "möglichst einfache Beziehung von Optischem und Akustischem als Modell einer neuen (abstrahierten) Oper" (Uecker-Zeitung 2-70). Uraufführung in der Kunsthalle Düsseldorf 1970. Titel der Komposition schließlich 'KLANG-SZENE für 2 Hammondorgeln, elektrische Transformation, Lautsprecher, Objekt und Licht-Tuchplastiken'. Die Lichtquellen – über/hinter/in weißen Tuchplastiken – und die Klangquellen (Lautsprechergruppen) sind im Raum verteilt und reagieren 'polyphon' nach einer Partitur, in der auch die Klangrichtung und die Klangrichtungsverläufe als Stimmen notiert sind: "Stimmen im Klang" (Uecker-Zeitung).

Aus dem Vorwort der Partitur:

«Ausgangspunkt der Komposition war die Erfahrung, daß Klang und Klangvorgang – wie bildnerische Objekte – 'ausgestellt' und 'inszeniert' werden können, daß die Zuhörer – wie die Besucher einer Kunstausstellung – in einer 'Klang-Szene' sein können, sich beliebig in ihr bewegen können, so wie die 'Klang-Szene' sich um die Zuhörer herum bewegt (kontrapunktierbar durch eine – auf die 'Klang-Szene' bezogene – visuelle Szene).»

Diese (1-stündige) 'Klang-Szene I' wurde für die Nationalgalerie Berlin verändert und erweitert zur (2 1/2-stündigen) 'KLANG-SZENE II'.

Aus dem Vorwort der Partitur:

«Der quasi 'abstraktere' Klang und Klangvorgang der Klang-Szene I wurde kombiniert und kontrapunktiert mit dem quasi 'persönlicheren' Klang und Klangvorgang von 4 zusätzlichen Ensembles, sehr verschieden nach Besetzung und 'stilistischer' Herkunft. Für die 4 zusätzlichen Ensembles wurde eine zusätzliche Partitur geschrieben. Die 4 zusätzlichen Ensembles sind jeweils als eine Stimme in die Partitur eingesetzt ... Die Notation ist relativ vieldeutig, so daß ein gewisser Spielraum bleibt.»

Die vier – die Live-Elektronik der Klang-Szene I ergänzenden – zusätzlichen Ensembles waren in Berlin:
– mechanisches Orchester und 'Tänzer' von Uecker
– Solisten-Ensemble der 'Gruppe Neue Musik'
– 'Erlebnisgeiger' um Johannes Grützke
– 'Kluster-Eruption'


Posaunen im Raum (für beliebig viele Posaunen, min. 6-12)
Flöten im Raum (für beliebig viele Flöten, min. 7-20)

Entstanden 1989/90, im Vorfeld der Medea-Oper, aus der das harmonische Material der Kompositionen jeweils stammt. Uraufführung 1990 in St. Petri Lübeck zur Finissage des 'Medea-Projektes', mit Bildern von Barbara Engholm. Wie die Spieler sich ihre Spielkoordinaten suchen, möglichst weit verteilt und immer auf die anderen hörend und auf die Raumakustik reagierend, so suchen sich die Hörer ihre (variable) Hörkoordinaten. Die Dauer ist variabel, gegliedert durch Tamtamschläge. Die Notation gibt zugleich Spielraum und Rahmen, so daß die Ergebnisse immer etwas anderes, zugleich aber auch immer ähnlich sind, auch ohne Dirigenten. Der Raum selbst wird zum Klang-Körper. Es gilt wie schon bei den 'Klang-Szenen':

«Der Klang als Zustand/Prozeß wird in seinem Verhältnis zum Raum, zum Hörer abgetastet. Er wird vom Hörer begehbar, inwendig erfahrbar, als Komplex und Kontinuum wahrnehmbar. Der Hörer findet sich quasi zurückgeworfen in eine klangliche Gebärmutter, konfrontiert mit seinen Wahrnehmungsmöglichkeiten bei oft kaum wahrnehmbaren bis zu extremen Veränderungen der Eigenschaften des Klanges in seiner zeitlichen und räumlichen Perspektive» (aus Hans Oesch: Interview mit Friedhelm Döhl, Melos/NZfM 5/1975).

Diese Raumkompositionen wurden später auch in anderen, sehr verschiedenen Räumen aufgeführt, so 'Posaunen im Raum' 1997 (geteilt in 2 mal 6 Posaunen, als Gegenüber in luftiger Höhe) von den Dächern der Musik- und Kongreßhalle Lübeck und des Senatorhotels – oder 'Flöten im Raum' 2013 (in einer neuen Version) in der Kunsthalle St. Annen zur Ausstellungseröffnung Emil Schumacher.


"Cubecracks" für 4 Schlagzeuger

Zur Eröffnung der Ausstellung 'Cubecracks' von HD Schrader am 23. Juni 1996 in der Katharinenkirche Lübeck entstand die Komposition 'Cubecracks' für 4 Schlagzeuger, verteilt in den extremen Eckpunkten eines imaginären Quadrats.

Schraders 'Cubecracks' in Lübeck: 6 Skulpturen im Außenraum (Stationen) und 6 Skulpturen im Innenraum/St. Katharinen (Konstellation). Meine Entscheidung für den Innenraum/St. Katharinen (Konstellation). Analyse von Lothar Romain: 'Bruch-Stücke' als Bau-Teile. 6 (von 12) Segmenten eines (Hohl-)Körpers. Auseinander – wie Miteinander – von Bruch-Stücken.

Entscheidung für 4 Schlagzeuger, d.h. einfache Lösung mit komplexen vieldeutigen Perspektiven. Musikalisches Karree gegen 6 Bruch-Stücke des Kubus. Karree als Form- und zugleich Raum-Komposition. 4 getrennte Positionen im Raum. Korrespondenz im Karree und über die Diagonalen.

Schraders rote Objekte gliedern den lichten Raum. Die Hörer bewegen sich zwischen den Objekten und um die Objekte herum. Die Schlagzeuger stehen um die Objekte und Hörer herum im (schiefen) Karree, im 'Zyklus' und 'diagonal' korrespondierend. Gegen Ende treffen sich 2 Schlagzeuger mit Rührtrommeln in der Mitte und spielen, Rücken an Rücken, von innen nach außen: 'Revelge'.


Graduale für 2 mal 4 Posaunen

für das Posaunen-Ensemble Ehrhard Wetz
zum Festival 'Begegnungen', in St. Petri Lübeck am 29.10.1999.

Nach einem Brief an Ehrhard Wetz:

Die 8 Posaunen geteilt in 2 x 4, gegeneinander aufgestellt, 'doppelchörig'. Akademisch hätte sich eine Komposition/Unterteilung in 3 x 3 angeboten, vom (mikro)kanonischen Ansatz her. Doch mir war das Schwankende wichtig, das Fast- oder Doch-nicht-3x3. Was der beabsichtigten Gesamtwirkung entspricht, dem Miteinander im Gegeneinander (Gegeneinander im Miteinander), quasi 'Geläut für St.Petri' (St. Petri hat ja keine Glocken, ist selbst Glocken-Raum für das Geläut.)

Der formale Vorgang ist 'minimalistisch' einfach:
doppelchörig wechselnde (sich überlappende) Einzeltöne – über 2-Ton-Gruppen und (vorübergehend) 3-Ton-Gruppen – zurück zum 1-Ton-Wechsel. Dabei verdichtet sich kanonisch der Klang, erweitert sich, verschiebt sich allmählich nach oben, 'crescendo'.

Für die einzelnen Spieler sind die Stimmen leicht, nichts Virtuoses. Wichtig ist das sehr gleichmäßige 'Tranquillo' und das Miteinander, d.h. der (changierende) Gesamtklang. Auch das Gegeneinander im Miteinander, d.h. die Korrespondenz durch den Raum. Korrespondenz im Halbe-Noten-Abstand (Halbe = 30), doch darunter der 'Pulsschlag' der großen Trommel: Viertel = 60.

Im Endeffekt wird die 'Kanonik' weniger hörbar als das (durch sie strukturierte) doppelchörig changierende 'Geläut'.


Klarinetten im Raum

für Sabine Meyer, Reiner Wehle und die Lübecker Klarinettenklasse,
zur Eröffnung der Kunsthalle St. Annen, in St. Aegidien Lübeck am 30.5.2003.

Nach den Anmerkungen zur Partitur:

Klarinetten. Beliebig viele Spieler (min. 7-14).
Die Klarinetten stehen akustisch günstig im Raum verteilt,
um das Publikum herum, Klarinette I und II evtl. auf einer Empore.

Punkte im Raum. Isoliert (wie in der 'Leere' absoluter Stille).
Zunächst kaum hörbar, dann zunehmend crescendo ...

Tongruppen, Gesten: unruhig, hastig huschend, flockend,
tastend (wie im 'Nebel'). Jeder für sich, unabhängig voneinander,
doch zunehmend auch aufeinander hörend, reagierend.

Allmählich in mehreren Stationen sich entwickelnd:
mormorando – liturgico – canto armonico – canto espressivo – mobile – agitato – ornament –

und schließlich – nach einer Kadenz der Klarinetten I und II (solo a due) – gesteigert
zum kollektiven 'canto europeo antico' nach Heinrich Isaac*.

*) 2003 auch als Reaktion auf die Arroganz der 'neuen Welt' gegen 'Old Europe'




Zur Oper MEDEA

Schon seit den 70-ger Jahren, als ich mich in Düsseldorf und Berlin theoretisch und praktisch mit den Möglichkeiten szenischer Kompositionen beschäftigte – "Klangszenen", "Mikrodramen" u.a. – projektierte ich immer auch eine große Oper.

Den Anfang markierte der "Medea-Monolog" für Sopran und Kammerorchester, den ich im Auftrag des WDR Köln für die Wittener Tage für neue Musik 1980 schrieb. In den folgenden Jahren entwarf ich mehrere Libretti. Die großen Kammermusikwerke und Orchesterwerke der 80-ger Jahre hatten immer auch eine 'formpsychologische / musikdramatische' Essenz, die als innerlich vorbereitend für die Oper gesehen werden kann: das Cellokonzert "Wie im Versuch wieder Sprache zu gewinnen" 1980/81 (quasi eine 'Kundry-Symhonie'), die "Passion" für Orchester 1984 (die mit Trakls Gedicht 'Passion' auch Trakls Liebe zu seiner Schwester beinhaltet), das "Ballet mécanique" 1983/84 (zu dem Film von Fernand Léger, von mir der – von Léger kalt mechanisierten – 'unbekannten Wäscherin' gewidmet), das Streichquintett "Winterreise" 1985 (das die Situation des zunehmenden Ausgestoßen-Seins – und auch wieder Trakls Schwester thematisiert: "Mönchin, schließ mich in dein Dunkel").

In der Medea-Überlieferung durchkreuzen sich 2 Sagenstränge. Zum einen die Sage von Medea in Kolchis, Tochter des Sonnengottes und der Mondgöttin, Zauberin, heilkräftig, Vertreterin einer animistischen (matriarchalischen) Kultur, naturbezogen (aber schon in einer zum Patriarchalischen sich ändernden Gesellschaft). Zum anderen die Argonautensage, die für das materialistische (patriarchalische) Griechentum steht, die Eroberungszüge der Griechen gen Osten, bis an den Rand der Welt, nach Kolchis, auf der Suche nach Gold und Macht (Kolonien).

Die meisten dramatichen Bearbeitungen des Medea-Stoffes beziehen sich auf das Finale dieser beiden Sagenstränge: Medea vor Korinth – als Fremde, 'Barbarin', 'Hexe' und schließlich als Kindesmörderin (eine Erfindung des Euripides). Die Medea des Euripides wird ins Grausame gesteigert durch Seneca, die Barockoper und die meisten Bearbeitungen der späteren Zeit.

Nur Grillparzer hat versucht, in seiner Trilogie "Das goldene Vlies", nach dem Hintergrund Medeas zu fragen, wo kommt sie her, wer ist Medea? So spielen die beiden ersten Teile der Trilogie in Kolchis – I: 'Der Gastfreund' (Phryxus, Vorgänger von Jason, der als vermeintlicher Eroberer von den Kolchern ermordet wird) – und II: 'Die Argonauten' (der Raub des 'goldenen Vlieses' durch Jason). – Erst Teil III der Trilogie ('Medea') spielt in Korinth, wo der Konflikt zwischen Medea und Jason, zwischen Kolchis (Asien) und Korinth (Griechenland) sich offenbart als Konflikt zwischen zwei Kulturen, der animistischen Welt Medeas und der materialistischen der Griechen, zwischen Naturmagie (Mond, Sonne, Blut, Feuer) und Habgier (Gold, Gewalt, Macht).

Ich fand meinen eigenen Weg, indem ich in meinem Libretto zwar ausgehe von dem Gerüst der Trilogie Grillparzers, es aber sehr frei bearbeite, extrem kürze und konzentriere, transformiere, zuspitze und (im Hinblick auf die Musikalisierung) poetisiere und dramatisiere, – auch unter freier Verwendung von Textmaterialien aus Orphischen Hymnen, Euripides, Jahnn, Hölderlin, Trakl, Lasker-Schüler u.a.

Für mich ist Medea einerseits 'Menschin', die alles aufgeben will für die geglaubte Liebe zu Jason: ihre göttliche Kraft, ihre Heimat, – und dennoch verraten wird, von Jason, vom Gastland Korinth – und am Schluß noch von ihren eigenen Kindern. Andererseits behält sie, auch im Untergang, immer ihre Bindung an ihre animistische Herkunft:

"Blüte und Blut, Sonne und Mond, sternenflammende Nacht" (I/1).

"Ewige Sonne! Dein Blut, das du auf Erden ausgestreut, dein unvergänglich Blut, das du gesät auf Erden, aufruf es wieder in deine fernsten Himmel" (III/4).

Die "Klang-Szenen" 1970/71, die Mikrodramen "Süll", "A&O", "Anna K" 1972-74 sowie die "Szene über einen kleinen Tod" 1975 (deren Textcollage schon ein Zitat aus Grillparzers "Medea" enthält) dienten auf experimentelle und sehr verschiedene Weise der Einübung ins Szenische. Konkreter wurde der Opernplan mit dem "Medea / Monolog", laut Programmheft der Uraufführung in Witten am 18.4.1980:

«entstanden 1979/80 als zentrale Szene einer seit langem projektierten Oper. Sie spielt inhaltlich nach dem Argonautenzug, der Liebe von Jason und Medea, dem Raub des goldenen Vlieses, der Flucht zurück nach Griechenland, dem Verrat Jasons an Medea. Medea allein – Frau zwischen den Kulturen, zwischen Asien und Griechenland, Gott- und Menschsein, Liebe und Haß, Leidenschaft und Leere. Keine Heldin. Eher eine auf sich selbst geworfene Kreatur, in (exemplarisch zugespitzter) auswegloser Situation. – Medea vor dem Kindermord. Die frühen Stationen der Außenhandlung verwirren sich im 'inneren Monolog'. Eine Art 'Psychodram', das im Hin und Her der Gefühle zum Zusammenbruch führt. Allen Sinnes beraubt sieht Medea als einzigen Ausweg nur den Kindermord. Indem sie nimmt, was sie gab, gewinnt sie ihr zerstörtes Selbst zurück. Implosion. – Die Komposition versucht, den psychodramatischen Prozeß musikalisch zu realisieren in einem großen formalen Bogen vom relativ ruhigen Beginn schweifender Erinnerung über notturno-artige wehmütige Rückblicke, ariose und affettuose Anklagen und Klagen bis zur Katastrophe und dem anschließenden Finale 'estàtico quasi danzante'.» (FD).

Die Idee des Regisseurs Götz Friedrich und des Dirigenten Spiros Argiris, mit mir in Erweiterung des Medea-Monologs für Menottis 'Festval dei Due Mondi' in Spoleto eine Kammeroper zu inszenieren, realisierte sich nicht, weil ich mir jetzt, als Konsequenz des hochdramatischen Monologs, nur eine große Oper vorstellen konnte. Mit und nach dem Medea-Monolog entstanden mehrere Entwürfe zu einem Opernlibretto. Anderes kam dazwischen, doch vieles schrieb ich auf die imaginäre Medea-Oper hin. – Der Auftrag des Landes Schleswig-Holstein 1986 gab dann den entscheidenden Anstoß zur Komposition der 'Medea-Oper'. Die Niederschrift der Partitur ging zunächst relativ schnell voran, Akt I: Sept.-Okt.1987, Akt II: Nov.-Dez.1987, dann ein 'Loch' von ca. 5-6 Monaten, doch Nacharbeiten und Vorarbeiten für Akt III: 1988/89.

Die ganze Oper, die auf meiner jahrelangen Beschäftigung mit dem Stoff (historisch, literarisch, mythologisch, psychologisch) sowie auf meinen intensiven sprachlichen, dramaturgischen und musikalischen Vorarbeiten basiert, gliedert sich schließlich in 3 Akte, wobei die ersten 2 Akte in Kolchis spielen, der letzte Akt – nach einer großen Pause, welche die lange Irrfahrt von Kolchis nach Griechenland symbolisisert – vor und in Korinth. Die Oper war ursprünglich gegliedert in 3 sich formal erweiternde Akte: von 3 zu 4 zu 5 Szenen, wobei dann aber die geplante und schon skizzierte letzte Szene (III/5) der Tatsache zum Opfer fiel, daß die von mir gewünschte Zusammenarbeit mit Günther Uecker als Bühnenbildner vom damaligen Theaterintendanten kurzfristig aufgekündigt wurde, während die musikalische Probenarbeit schon auf Hochtouren lief. Ich hatte die letzte Szene musikalisch so eng auf ein Ueckersches Bühnenbild bezogen, daß sie jetzt für mich nicht mehr ausführbar war. Ich mußte radikal umdenken und den Schluß so umfunktionieren, daß er dramaturgisch konsequent mit dem Monolog der 'ausgestoßenen' Medea aufhört, mit dem die Komposition der Oper ja auch ursprünglich anfing.

Medea-Oper. Handlung und Gliederung

Eingang (Introitus)

"…Nacht, alles umfassende du! … Daß nie der Tag … Daß nie das goldene Vlies … Daß Phryxus nie – und Phryxus' Schatten Jason nie … Daß Argo durch die düsteren Meere nie gefahren wär' nach Kolchis! … Nie dann sah Medea Jason – und wurde nie verraten … Verstoßen – wie das Tier der Wildnis … ohne Heimat … Nacht, alles umfassende du …"

I. Akt (Kolchis)

1. Szene ('Blutopfer').  Medea – Tochter der Mondgöttin und des Königs Aietes – und ihr Gefolge opfern der Muttergottheit. Es herrscht Frieden, 'allumfassende Nacht'.

2. Szene ('Der Vater').  Aietes bedrängt Medea um Zauberhilfe gegen die Griechen, die in Kolchis gelandet sind. Es geht ihm um Macht und Beute. – Die Welt Medeas und ihre Warnung versteht er nicht.

3. Szene ('Der Gastfreund').  Phryxus, Anführer der Griechen, kommt – vorgeblich als Gastfreund. Als Gastgeschenk bringt er das 'goldene Vlies', das er der kolchischen Gottheit opfert. In Wirklichkeit geht es auch ihm um Eroberung, um Beute. Auch Medea weckt seine Begierde. – Trotz Medeas Warnungen töten die Kolcher hinterrücks die Griechen, tötet Aietes den 'Gastfreund'. Sterbend verflucht Phryxus den Mörder.

II. Akt

1. Szene ('Medea im Turm').  Medea hat sich – mit ihren Frauen – in die Einöde zurückgezogen, die gestörte Natur beklagend, kommendes Unheil ahnend. – Auch hier bedrängt Aietes sie wieder um Zauberhilfe, unterstützt von Absyrtus, Medeas Bruder: Wieder sind Griechen gekommen, Jason und die Argonauten, um Phryxus zu rächen, das goldene Vlies zurückzuholen.

2. Szene ('Medea und Jason').  Ihrem Vater zuliebe sucht Medea noch einmal Hilfe, im Gebet an die Göttin. Vergeblich. – Jason springt hinter dem Götterstandbild hervor, verletzt die "Zauberin" mit seinem Schwert, erkennt dann ihre Schönheit, betört sie mit vielen Worten. Medea, die Jason in ihrer Verwirrung erst für den Todesgott hält, wird trotz innerer Warnungen vom Chaos ihrer Gefühle und von Jason überwältigt.

3. Szene ('In der Höhle')..  Jason drängt Medea, ihm die Höhle zu zeigen, wo das goldene Vlies verborgen liegt. Er ist entschlossen, das Vlies zu holen, trotz Medeas Warnungen und Bitten, sogar um den Preis ihres Lebens. Medea "erkennt" Jason – und damit zugleich Phryxus und ihren Vater. – Jason, mit dem blutbefleckten Vlies aus der Höhle zurückgekehrt, ist verwirrt, seiner selbst nicht mehr sicher. Phryxus' Schatten folgt ihm: Jason selbzweit.

4. Szene ('Flucht').  Am Strand. Die Argonauten begrüßen Medea und ihre Frauen als "wilde Tiere", als Beute. – Die verfolgenden Kolcher kämpfen um das Vlies. Nachdem Absyrtus – Medeas "Verrat" anklagend – durch Jason getötet wird, sinkt Aietes sterbend zusammen. Auch ihr Blut haftet nun am Vlies. Medea trifft Aietes' Fluch: "Ausgestoßen sollst du sein / gemieden / wie das Tier der Wildnis!"

III. Akt (Korinth)

1. Szene ('Vor fremden Mauern').  Einige Jahre später. Nach langer Irrfahrt sind Jason und Medea mit ihren beiden Kindern vor Korinth gelandet. Medea vergräbt am Strand die Zeichen ihrer alten magischen Herkunft und Kraft, um Jason näher und "den Griechen eine Griechin" zu sein. – Jason achtet ihr Bemühen wenig. Er buhlt um die Gastfreundschaft des Königs Kreon und um dessen Tochter Kreusa, die er aus Jugendzeiten kennt. Dabei ist ihm Medea lästig. Kreon und den Griechen ist die "Barbarin" unheimlich: "Hexe"!

2. Szene ('Das zerbrochene Lied').  Aus Liebe zu Jason sucht Medea die Freundschaft zu Kreusa, um von ihr die griechische Art zu lernen. Kreusa versucht, Medea auf der Lyra das Lieblingslied Jasons beizubringen. Das mißlingt, zumal Jason hinzu kommt und mit Kreusa gemeinsame Erinnerungen auffrischt. Die Lyra zerbricht in Medeas Händen.

3. Szene ('Verbannung').  Herolde der vereinigten griechischen Stämme verkünden die Verbannung von Jason und Medea. Jason sagt sich von Medea los ("Ich fluche dir, wie alle Welt dir flucht"). Kreon verbürgt sich für Jason als seinen künftigen Schwiegersohn. Medea, von allen, auch von Jason, als "Hexe" gebrandmarkt, soll allein das Land verlassen. Auch ihre Kinder werden ihr brutal genommen. Tiefpunkt ihrer 'Passion'.

4. Szene ('Monolog').  Medea allein, "ausgestoßen" aus Kolchis wie aus Griechenland. Zwischen den Kulturen, zwischen Gott- und Menschsein, zwischen Liebe und Haß, Leidenschaft und Leere, auf sich selbst geworfen in auswegloser Situation. Die Stationen und Personen ihrer Vergangenheit verwirren sich im 'inneren Monolog'. Als einzigen Ausweg sieht Medea die Nichtung der Kinder, hin und her gerissen von ihrer mütterlichen Liebe. Indem sie nimmt, was sie gab, gewinnt sie ihr zerstörtes Selbst zurück. ('Implosion'. – Kein Mord, sondern Umkehrung der Geburt).
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5. Szene ('Abschied').  Medea, Jason, Chor. (Nur skizziert, kompositorisch nicht ausgeführt).

Zur fertigen Medea-Oper und ihrer Dramaturgie:

Aus einem Brief an Klauspeter Seibel, 19.3.1990:

«… Eine wirkliche 'Medea-Oper'! Keine Idylle am Schluß, sondern Erkenntnis (Selbstbefreiung)!
Die ganze Oper folgerichtig:
I)  Exposition. Die Grundproblematik des Aneinander-Vorbei.
II)  Begegnung, Versuch einer Ich-Du-Beziehung, schon Scheitern und Beginn der zunehmenden Erniedrigung Medeas.
III)  Trennung, Verbannung, bis zum Verlust der Kinder ('Medea gekreuzigt', auch eine Art 'Passion'), der tiefste Punkt am Ende von III/3.
Auch musikalisch ist bis hierher alles zu Ende gebracht, die vorausgehenden Szenen enthielten diverse Entwicklungen und (Tutti-)Steigerungen, besonders in II/2 und 3, dann weiter in III/1-3, III/1 und 3 etwa mit dem großen "Hexe"-Chor. III/3 bezieht sich zudem 'reprisen'artig bzw. rückläufig auf III/1, II/3, II/1.
Der 'Monolog' (III/4) ist so auch Epilog und 'Finale', in dem sich alle Fäden nochmal verknüpfen (in Medeas Innerem), um den einen roten Faden zu finden. – Der Kindermord, auf den alles hinausläuft, ist zugleich vielleicht ein Neubeginn. Ich lasse offen, ob der Kindermord real geschieht oder nur imaginär ist. Wichtig ist aber, daß es nicht wirklich ein 'Mord' ist, sondern fast das Gegenteil, indem Medea die Kinder zurücknimmt: quasi ein umgekehrter Geburtsvorgang, 'Implosion'. Über den Anblick der Kinder springen Medea die "Wehen in die Glieder", als ihr "Wasser die Augen trübte", "begriff" sie alles, findet sie zu sich selbst zurück. 'Implosion' als Steigerung nach innen, und, nachdem die 'Tutti'-Mittel erschöpft sind, ins 'Solistische', 'Individuelle', wo einzig allenfalls der Neubeginn zu finden.
'Monolog': Medea allein. Zugleich "ausgestoßen", möglichst vor die Bühne. Auf das Publikum zu, das seinerseits dieser (ausgestoßenen) Medea ausgesetzt wird. Der Monolog wird so auch zum Dialog mit dem Publikum, mit jedem 'einzelnen' darin.»

Uraufführung Opernhaus Kiel am 17.6.1990, mit Brenda Roberts als Medea, Leitung Klauspeter Seibel.
(CD mit ausführlichem Booklet und Libretto: Friedhelm-Döhl-Edition Vol.15, Dreyer Gaido CD 21062).




Summe – SYMPHONIE für großes Orchester

Zum 100-jährigen Jubiläum des Philharmonischen Orchesters Lübeck schrieb ich im Auftrag der Hansestadt Lübeck 1997/98 eine "SYMPHONIE für großes Orchester" (Uraufführung 28./27. April 1998, Leitung Erich Wächter), – in 7 Sätzen:
Introitus – Ritual – Ballade – Lied – Intermezzo (Rückblick) – Zerbrochenes Lied (Atemwende) – Exodos.

Es ist mit einer Stunde Dauer mein bisher größtes Orchesterwerk.
Vorher waren: Melancolia – Zorch (für Big Band und 3 offene Flügel) – Ikaros – Symphonie für Cello und Orchester (Cellokonzert) – Tombeau – Passion – Winterreise – Sommerreise (Klavierkonzert).

Den Begriff "Symphonie" verwendete ich bisher nur einmal, für das Cellokonzert. Doch sind auch die anderen Werke – auch die 'Konzerte' – für mich 'symphonisch', ob mehrsätzig (Melancolia, Cellokonzert, Klavierkonzert) oder einsätzig in mehreren 'Stationen' (Zorch, Tombeau, Winterreise) oder einsätzig in einem – wenn auch gegliederten – Durchgang (Ikaros, Passion). 'Symphonisch' im Sinn eines größeren orchestralen 'Zusammenhangs' bzw. 'Formprozesses'. Doch jedes Werk folgt seinen eigenen Bedingungen, ist individuell, auch in seiner Ambivalenz zwischen Form und Poesie.

Die SYMPHONIE basiert wesentlich auf den Erfahrungen der Oper MEDEA (1990). So wie diese die Stringenz ihres großformalen Bogens aus dem Symphonischen holt, so die Symphonie ihrerseits aus dem Dramatischen: aus den beiden Satz-Staffeln I-III ('Introitus' – 'Ritual' – 'Ballade') und, nochmals steigernd: V - VII ('Intermezzo/Rückblick' – 'Zerbrochenes Lied/Atemwende' – 'Exodos'), zentriert um Satz IV ('Lied').

«Es war von Anfang an klar, daß mein (neuntes!) symphonisches Werk ein großes Orchesterstück werden würde. Ich wollte etwas Besonderes schaffen, ein Resümee, ein Vermächtnis meines kompositorischen Schaffens, in dem alles zusammenfloß, was vorher war. Schließlich heißt Symphonie ja auch 'Zusammen-Klang'. Tatsächlich ist sie das größte symphonische Werk geworden, das ich je komponiert habe. Während die acht vorhergegangenen symphonischen Arbeiten im Schritt nur 20-35 Minuten dauern, nähere ich mich mit der rund eine Stunde langen "Symphonie für großes Orchester" (äußerlich) mahlerschen Dimensionen. Doch ist meine "Symphonie" in Bezug auf Form und Farbe wiederum völlig anders, liegt jenseits aller bekannten Schemata. Aufgeteilt ist das Werk in sieben Sätze, die zyklisch geordnet sind: I-III, IV, V-VII, aber nicht symmetrisch, sondern in zweifacher Staffelung, I-III, V-VII, jeweils sich steigernd, dazwischen IV als 'Insel'.

Für mich ist das Korrelat Form - Ausdruck immer wichtig gewesen ('Formpsychologie'). Ausdruck muß Form werden, Form Ausdruck. Wie es schon für mein erstes symphonisches Werk ("Melancolia" 1967/68) galt.

Eingeleitet wird die Symphonie mit einem "Introitus". Der Vorhang geht auf. Das Material der Symphonie wird exponiert. Der Satz ist in der Form völlig offen und endet ebenso offen.

Daran knüpft das "Ritual" an: Das heißt, es knüpft nicht an, sondern die Musik kommt zunächst zur Ruhe, um sich dann aus einem meditativen Zentrum heraus neu zu entwickeln, aus einem Einzelton, der Umspielung des Einzeltons, zu einer quasi liturgischen Zwei- und Mehrstimmigkeít, die immer polyphoner wird, immer enger, bis nur noch eine Vokalise übrig bleibt.

Der dritte Satz ist "Ballade" überschrieben: Die Außenwelt bricht in das Ritual ein. Eine abstrakte Handlung, kontrastreich und sehr dramatisch, die verschiedenen Stimmungen treten in Auseinandersetzungen miteinander, in langer Steigerung, bis hin zu einem Höhepunkt, der in Lyrizìtät umschlägt, bevor das ganze in einer resignativen Geste, einem Smorzando, endet.

Während die ersten drei Sätze fließend ineinander übergehen, und durch kompositorische Maßnahmen eine Unterbrechung der Stückfolge vermieden wird (eine Fermate zum Ende eines Satzes geht in ein Attacca zum Beginn des nächsten über), steht der vierte Satz, das "Lied", 'wie eine Insel' im Zentrum der Symphonie.

Dem folgt ein "Intermezzo (Rückblick)". Es hat eine janusköpfige Funktion. Es erinnert an das, was war, und ahnt gleichzeitig schon, was kommen wird.

Auch die Sätze V-VII stehen (wie Satz I-III) in gestaffelter Folge.

Der sechste Satz heißt "Zerbrochenes Lied (Atemwende)". Es ist ein Versuch, noch einmal auf des Liedhafte zurückzukommen, ein Versuch, der mehrfach unternommen wird und der mehrfach gestört wird, und der schließlich aus einer Potenzierung übereinander gejagter Versuche in einem Tohuwabohu endet und zur Katastrophe führt, sozusagen implodiert. Danach ist nur noch eine leere Fläche da (Smorzato), Asche, ein wenig Glut in der Asche vielleicht.

Der letze Satz ist "Exodos" überschrieben, nicht zu verwechseln mit dem latinisierten "Exodus". Gemeint ist vielmehr die ursprünglche griechische Bedeutung im Wortsinne, wie sie den Schlußteil der attischen Tragödie bezeichnet: Ende und Neuanfang. Ein Ausgang, der ein Aufbruch ist. Das ganze Orchester fließt in einer großen, fast dithyrambisch anmutenden Geste zusammen.»

(nach einem Gespräch mit Lothar Meyer-Mertel – NORD. Magazin für Kultur, April 1998)

Bei so großen Projekten wie der Oper "Medea" oder nun der "Symphonie" oder danach dem "Requiem 2000" 'vergrabe' ich mich (im Fall der "Symphonie", auf Grund einer freundlichen Einladung, auf einer Nordseeinsel), schaue nicht rechts noch links, denke nur an mich und meine Aufgabe, in zweiter Linie an die Aufführungsbedingungen und die Aufführenden. Die sind mir dann bei Proben und Aufführung, als Kollegen von der anderen Seite, wichtig. Und schließlich, die Kollegen von der dritten Seite, die Hörer. Natürlich freue ich mich, wenn meine Musik 'über die Rampe' kommt, wie es häufig der Fall, war. Dann schließt sich der Kreis (Dreiklang) zwischen Komponist, Interpret und Publikum, in dessen Mittelpunkt ja immer derselbe, nämlich der Mensch, steht:

«Sieben Sätze umfaßt diese 'Symphonie für großes Orchester'. Diese Sätze nehmen gefangen, führen zu nahezu atemloser Stille im Auditorium. Gerade das will etwas bedeuten, begegnet doch das Publikum neuer Musik eher verhalten, oft mit Unruhe. Aber was sich in Döhls Werk ereignet, ist ein dramatischer Wandel in einer seelischen Landschaft, der nachvollziehbar, nacherlebbar ist. Und das ist wohl sein Geheimnis, daß bei aller Komplexheit der Partitur, bei aller künstlerischen Durchformung dieses Werk pulsierendes Empfinden vermittelt, es auch hörbar macht durch erkennbare und wiederkennbare Elemente und Strukturen. Das Werk klingt schlüssig, ist eine organisch sich entwickelnde Partitur… Bravos und Ovationen im Stehen. Auch das Publikum hatte die Besonderheit dieses Werkes erfaßt.» (Arndt Voß, Lübeckische Blätter)

Für mich hat jedes Werk eine eigene Psyche, jede Form eine eigene Formpsychologie, nicht zuletzt Werke wie die Oper "Medea" und meine – wie auch immer – daraus abgeleitete 'Medea-Symphonie'. Schön, wenn das auch theoretisch erkannt wird:

«Ein tönendes Selbstgespräch, das in sieben reich untergliederten Kapiteln die Labyrinthe der eigenen Klang- und Vorstellungswelt durchschweift. 'Introitus – Ritual – Ballade – Lied – Intermezzo (Rückblick) – Zerbrochenes Lied (Atemwende) – Exodos' lauten die sieben Sätze der einstündigen Symphonie. Die Dramaturgie des von Trommelgewittern zerfurchten inneren Monologs ist so austariert, daß der Klangstrom anfangs der'Ballade' entgegenstrebt und in der zweiten Werkhälfte auf den 'Exodos' zuläuft, während das zentrale 'Lied' gleichsam das Auge des Orkans bildet.» (Lutz Lesle, Das Orchester)

Schön auch, wenn die 'Einheit in der Vielheit', quasi die 'mobile Plastik' des Ganzen erspürt wird:

«Trotz der Vielsätzigkeit präsentiert sich die Komposition beim Hören als ein Block… Das früh exponierte Material wird in immer neuen Zusammenhängen kombiniert, so als blicke man unter verschiedenen Perspektiven auf eine jener Großskulpturen von Richard Serra.» (Gottfried Krieger, Schleswig-Holsteinische Landeszeitung)




In dialektischer Gegenbewegung gegen die Tragik der Oper – und später der "Symphonie" und des "Requiems 2000" – versuchte ich, in anderen Werken auch wieder eine größere 'Leichtigkeit des Seins' einzubeziehen:

"Notturno" für Akkordeon und Kontrabaß (1995)
"Serenade" für 2 Kontrabässe (1997)
"Sommerreise. Klavierkonzert" (1993/97)
"Concerto a due" für Violine und Klavier (2000)
"Salut" für Cello solo (2001)
"Klarinetten im Raum" (2003)
"Ite missa est" für Orgel (2005)
"Gesang der Frühe" für großes Orchester (2006)




Korrespondenz mit der Musik anderer

Durch die ästhetische wie existenzielle Erfahrung der Vielbezüglichkeit (Novalis) entstand auch eine neue Korrespondenz mit der Musik anderer, die – wie auch Texte und Malerei – auf die verschiedenste Art Eingang in meine Musik suchten, doch weniger im Sinn einer Collage, als im Sinn einer Amalgamierung, einer Anverwandlung, die auch zur Metamorphose meines Stils wurde. – Korrespondenz u.a. mit Wagner ('Symphonie für Cello und Orchester'), Bach ('Passion' für Orchester), Schubert ('Winterreise'/Streichquintett), Czerni/Lohengrin ('Sommerreise. Klavierkonzert'), Schumann ('Gesang der Frühe' für großes Orchester). – Korrespondenz auch mit eigenen Werken: So prägte meine Oper 'Medea', die selbst aus vielen Vorstadien zusammen kam, später u.a. meine 'Symphonie für großes Orchester' 1997/98 oder mein 'Requiem 2000'.

Auch in Konzerten suchte ich Korrespondenzen auf die Spur zu kommen, so in einer Reihe mit dem Titel Begegnungen':

'Begegnungen' mit Schubert – Gabrieli – Bach (1999)

«Streichquintette von Schubert und Döhl:

Das 'Nomos-Quartett' (Hannover) – erweitert zum Streichquintett durch Klaus Kämper (München) – kombiniert Schuberts großes Streichquintett C-dur mit Döhls (auf Schubert bezogenes) Streichquintett 'Winterreise'. – Schuberts Streichquintett entstand in Schuberts Todesjahr 1828 und ist wohl sein intensivstes und persönlichstes Kammermusikwerk, vollkommene Integration von lyrischem und dramatischem Ausdruck, geprägt durch eine eigentümliche melancholische Dur-Moll-Mischung. – Döhls Streichquintett 'Winterreise' ist einsätzig komponiert, gegliedert in 7 Stationen, in einem großen 'symphonischen' Zusammenhang, der sich musikalisch auf Schuberts Streichquintett und Liederzyklus 'Winterreise' bezieht und atmosphärisch auf Gedichte Georg Trakls. – Der Begriff 'Winterreise' reflektiert zudem unsere Situation am Ende des Jahrtausends.

'Posaunen im Raum' – Raum-Kompositionen von Gabrieli und Döhl:

Man kann die abendländische Musik in einen 300-jährigen Rhythmus gliedern: 1300 'Ars Nova', 1600 Renaissance/Frühbarock, 1900 'Neue Musik'. Giovanni Gabrieli – in der Tradition der 'niederländischen' und venezianischen Polyphonie, Lehrer u.a. von Heinrich Schütz – verkörpert einen Höhepunkt der Stilwende um 1600. Die Polyphonie hat sich zur Mehrchörigkeit gesteigert, dabei bringt die potenzierte Einbeziehung der Dreiklangsharmonik eine neue Klang-Sinnlichkeit: Farb-Flächen in Klang-Räumen. – Das 'Posaunen-Ensemble Ehrhard Wetz' konfrontiert (4- bis 12-stimmige) Kompositionen von Giovanni Gabrieli (entstanden um 1600 aus den besonderen räumlichen Möglichkeiten von San Marco in Venedig) mit Raum-Kompositionen von Döhl (entstanden aus den Raumerfahrungen von St. Petri in Lübeck): 'Posaunen im Raum' für 12 (extrem verteilte) Posaunen – und 'Graduale' für 8 Posaunen in 2 Chören (Uraufführung). – 'Graduale' heißt im Untertitel 'Geläut für St. Petri', – ein Geläut, das St. Petri nur scheinbar fehlt. Denn der Raum ist selber eine Riesenglocke.

Nachtkonzert mit Solisten' – Kompositionen von Bach und Döhl:

Christiane Edinger (Violine), Jörg Linowitzki (Kontrabaß) und Hugo Noth (Akkordeon) spielen Solokompositionen von Bach und Döhl in alternierendem Wechsel. Die drei Klangfarben Violine, Kontrabaß und Akkordeon gliedern das Konzert in 3 Teile. – Bachs Partita d-moll (mit der berühmten großen Chaconne) für Violine und die Partita D-dur für 'Klavier' (d.h. Tasteninstrument, hier Akkordeon) stellen einen Höhepunkt der Musik für Soloinstrumente dar und sind seither nicht übertroffen. Bachs Violin-Partita wird eingeleitet durch Döhls 'Solo' für Violine, das an das jüdische 'Kol Nidre' erinnert und gegen Ende Bachs Chaconne assoziiert. – Auf Bachs Klavier-Partita folgen Döhls 'Bruchstücke zur Winterreise' für Klavier (hier Akkordeon / Uraufführung), eine ganz andere Art 'Partita', 7 Reaktionen auf den Tod eines befreundeten Sängers, komponiertes Sprachloswerden. – Die Konzertmitte gehört dem Kontrabaß: '7 Canti' für Kontrabaß solo (Uraufführung), ursprünglich komponiert zu Gedichten von Giacomo Leopardi. Voraus erklingt das 3-sätzige 'Notturno' für Akkordeon und Kontrabaß, komponiert 1995 im Auftrag des 'Rencontre Internationale Accordeon et Culture'. Danach – ein einziges Mal die 3 Solisten zusammenführend – eine 'Berceuse' für Violine, Akkordeon und Kontrabaß (Uraufführung), fast durchweg 'sotto voce', – etwas wehmütig nachsinnend dem, was einmal war. Im Untertitel 'Brief an Bach' (die Buchstaben seines Namens spielen hinein).»

(aus den Programmnotizen zur Veranstaltungsreihe 'Begegnungen', Lübeck 28.-30.10.1999)




Zum REQUIEM 2000 (ATEMWENDE)

Aus dem Programmheft der Uraufführung in Sankt Martin Kassel am 17.6.2000 (Kantorei Sankt Martin Kassel, Vokalensemble Kassel, Solisten und Orchester, Leitung Hans Darmstadt):

«Leben und Tod erfuhr ich immer als Aufeinanderbezogenes, wie Hölderlin: "Leben ist Tod und Tod ist auch ein Leben". Besonders aufgefordert zum Nachdenken über das Wechselspiel von Kommen und Gehen waren wir wohl vom magischen Datum 2000.

Anfang 1998 fragte mich Hans Darmstadt, ob ich für Sankt Martin Kassel eine Komposition schreiben wolle, zu den Kasseler Tagen "Neue Musik in der Kirche" 2000.

Die Anfrage traf mich in einem besonderen Moment. Ich beendete gerade meine "Symphonie für großes Orchester", die ich als mein letztes, zusammenfassendes Orchesterwerk verstand, Rückblick und Summe. Bekenntnis zum Bisher, Frage: Was dann? – Ich sagte zu.

Es entstand spontan die Vorstellung eines 'Requiems' aus unserer (meiner) heutigen Perspektive: Jahrtausendwende – Zeitenwende? – In Verbindung mit dem permanenten Dialog von Leben und Tod. Ich reflektierte meine – diesen Dialog beinhaltenden – bisherigen Kompositionen: "Auf schmalem Grat" / Requiem für 6 Stimmen (nach "Himmelnähe" von C.F.Meyer), "Conductus" für 4 Schlagzeuger, "Tombeau / Metamorphose" für großes Orchester, "Winterreise" / Streichquintett u.a.

Erste Formidee – ein vierteiliges Requiem: Introitus – Kyrie – Dies irae – Lux aeterna. Dann weitere Ideen – Gedanken – Fragen. Welchen Sinn macht der überlieferte lateinische Requiem-Text in seinen verschiedenen Varianten? Was und wie kann ein 'Requiem heute' sein? Für mich: kein abschließendes "Ruhe sanft", es sei denn als 'Prinzip Hoffnung'. Aber auch kein "Dies irae" als drohender Zeigefinger über den Kulissen: Der lateinische Text – schon seit alters als quasi mechanische 'Sequenz' angelegt – dreht bei mir vollends leer als (kanonisierte) Gebetsmühle im Sprechchor.

'Requiem' ist auch Auseinandersetzung mit der menschlichen Existenz, ausgesetzt "auf schmalem Grat", auch Auseinandersetzung mit der (vom Menschen angemaßten) "Apocalypse now". – Den ersten Ideen folgte Zweifel. Zweifel, ob…, Zweifel, wie…, Zweifel an Sinn und Form… Aus langer "Zweifelarbeit" wuchs schließlich die Konzeption eines Zyklus in 2 Abteilungen, mit jeweils 7 Sätzen:

REQUIEM 2000 (ATEMWENDE) für Chor / Doppelchor, Soli (Mezzo/Alt, Bariton), Orgel (2 Spieler), 4 Posaunen, 2 Trompeten, Flöte (Piccolo), 3 Schlagzeuger
(Text-Collage aus Bibel, Missale, Bach, Trakl, Celan, Nelly Sachs, Jeanette Lander)


ISTERNVERDUNKELUNG
 
1     Graduale (Introitus)     Doppelchor, Posaunen
2Tuba mirumSchlagzeug, Posaunen, Frauenstimme
3Nacht (Gebet)Frauenstimme, Frauenchor, Flöte, Orgel
4OffertoriumOrgel (4-händig)
5Tenebrae (Gebet)Bariton, Orgel
6Revelge / Dies iraeSprechchor, Rührtrommeln
7StilleChor, Orgel, große Trommel
 
IIATEMWENDE
 
8   De profundis   Orgel
9SchneepartBariton, Orgel, kleine Trommel
10Wenn IDoppelchor, Orgel, Posaunen, Trompeten, Flöte
11Wenn IISprechchor/Doppelchor, Schlagzeug
12Wenn IIIDoppelchor, Orgel, Posaunen, Trompeten
13Revelge / Wenn IVBariton, Chor, Orgel, Pos., Tromp., Piccolo, Schlagzeug
14PsalmBariton, Chor, Orgel, Pos., Tromp., Piccolo, gr.Trommel
 
15   Epilog   Frauenstimme, Orgel

Vom lateinischen Requiem blieben nur Ruinen.

Teil I und II – je 7-teilig – können als (dramaturgisch aufeinander bezogener) Gegensatz verstanden werden:

– Teil I ("Sternverdunkelung") als ein Decresdendo von Licht und Hoffnung zu Finsternis und Angst:
"Lux" (Graduale) – "Nacht" – "Tenebrae" – "Stille".

– Teil II ("Atemwende") als ein Crescendo von Verzweiflung zu Aufruf und Trotz, von "De profundis" und hochleckender "Wunde" (Schneepart) über die Chor-Staffel "Wenn I-IV" zum Psalm-Aufschrei: "Mördersturmwelt, / in deinen Wüsten harren".

Die 'holocaust'-geprägte Textwelt von Paul Celan und Nelly Sachs war für mich eine unerläßliche Gegenwelt zur lateinisch-christlichen Tradition des Requiems. Nelly Sachs' "Sternverdunkelung" beschäftigte mich schon in den 60-iger Jahren, doch konnte ich sie damals – in gedanklicher Nacharbeit unserer schlimmen Geschichte – nicht zu Klang und musikalischer Form bringen. – Dann kam die Begegnung mit Celan: das Gedicht "am Rande seiner selbst", zwischen einem "Schon-nicht-mehr" und einem "Immer-noch". Nelly Sachs und Paul Celan: einander zugetan. Ergriffen hat mich ihr Briefwechsel als Zeugnis ihrer 'ausgesetzten' Nachkriegssituation – und ihrer Frage nach Gott. Scheinbar auf verschiedenen Seiten des "Randes ihrer selbst". – Celan nach der ersten persönlichen Begegnung mit Nelly Sachs in Zürich:

… Von deinem Gott war die Rede, ich sprach
gegen ihn, ich
ließ das Herz, das ich hatte,
hoffen:
auf
sein höchstes, umröcheltes, sein
haderndes Wort –

Dein Aug sah mir zu, sah hinweg,
dein Mund
sprach sich dem Auge zu, ich hörte:
"Wir
wissen ja nicht, weißt du,
wir
wissen ja nicht,
was
gilt ..."

Celan pervertiert in "Tenebrae" die vertraute Gebets-Situation: "Bete, Herr, / bete zu uns, / Wir sind nah". Für mich eine verzweifelte Variante zu Jakobs "Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn".

Dagegen die scheinbar umgekehrte Richtung von Nelly Sachs: "Wenn die Propheten einbrächen / durch die Türen der Nacht / und ein Ohr wie eine Heimat suchten, – / Ohr der Menschheit, / würdest du hören?"

Nur mit diesen Fragen / diesem Fragen konnte ich das Requiem denken und versuchen, es musikalisch zu gestalten. "Requiem 2000": Der Untertitel "Atemwende" ist auch der Titel eines Gedichtzyklus von Celan. Er drückt vielleicht am besten den ästhetischen / existenziellen Standort meines Requiems aus. Den Begriff "Atemwende" beschreibt Celan in seiner Rede zur Verleihung des Büchner-Preises: Es gibt Situationen und Wörter, die einem "den Atem verschlagen". Büchners Lenz ("… nur war es ihm manchmal unangenehm, daß er nicht auf dem Kopf gehen konnte") moduliert Celan zu: "… wer auf dem Kopf geht, der hat den Himmel als Abgrund unter sich".

"Atemwende" ist zugleich die Schwelle zwischen Einatmen und Ausatmen (Zeitenwende?).

Die Komposition benutzt verschiedene harmonische Möglichkeiten (Kirchentonales, 'Atonales' und 'Post-Atonales', Mixtur und Geräusch), verschiedene Formprinzipien von freier Fantasie ('Tuba mirum', 'Offertorium', 'De profundis') zu strenger Kanonik ('Graduale', 'Dies irae', 'Wenn I'), von Rezitativischem ('Tenebrae', 'Schneepart') zu Liedhaftem ('Nacht', 'Psalm', 'Epilog') und Dramatischem ('Wenn II-IV')

Wie der Text zwischen den Zeiten steht, so die Komposition im Zwischen-Raum, sie erklingt von verschiedenen Seiten, es gibt keine Richtungspriorität. – Der Chor singt in verschiedenen Funktionen: als Doppelchor, gemischter Chor, Frauenchor, Sprechchor, – monodisch, homophon, polyphon, – Chor als mehrgestaltige 'Stimme'. Hinzu kommen die Soli – Alt/Mezzo und Bariton – als zwei weitere Farben menschlichen Ausdrucks. – Den Chor- und Solo-Gesang interpolieren oder begleiten einerseits Orgel, andererseits Schlagzeug und Bläser (Posaunen, Trompeten, Flöte)» (FD)




"GESANG DER FRÜHE" für großes Orchester (Dialog mit Schumann)

Mein bisher letztes Orchesterwerk "Gesang der Frühe" ist zugleich wieder ein 'Aufschwung' (Schumann), ein neuer Aufbruch und eine Rückbesinnung auf meine Wurzeln in der Romantik, – ein 'Dialog mit Schumann' wie auch mit eigenen früheren Werken. – Aus dem Programmheft der Uraufführung am 11./12.Juni 2006 in Lübeck (Philharmonisches Orchester der Hansestadt Lübeck, Leitung Roman Brogli-Sacher):

«Vor Jahr und Tag sagte mir Roman Brogli-Sacher, daß im Rahmen der Symphoniekonzerte des Philharmonischen Orchesters 2006 ein Konzert zu meinem 70-sten Geburtstag geplant sei. Wir überlegten dann als Programm zum Beispiel: ein Solokonzert, davor ein kurzes Orchesterstück, nach der Pause eine klassische Komposition meiner Wahl. Für das Solokonzert schlug ich mein Cellokonzert vor, mit Heinrich Schiff als Solisten (der es mit Hans Zender und dem Rundfunk-Sinfonieorchester Saarbrücken 1981 uraufgeführt hatte), – in Erinnerung an eine Begegnung mit ihm in Lübeck 2004, wo er mir sagte, dieses Konzert würde er gern noch einmal spielen. Als klassische Komposition kam mir spontan Robert Schumann, dem ich mich wahlverwandt fühle, und seine 2. Symphonie in den Sinn, schon wegen des unendlich schönen langsamen Satzes.

Für das einleitende Stück dachte Roman zunächst an meine Komposition 'Ikaros', die ich 1977 für das Basler Symphonie-Orchester komponiert hatte. Das ist nun fast 30 Jahre her, und ich sagte, auch spontan – und etwas leichtfertig: Ich schreibe Euch lieber ein 'neues schönes Stück'. Als Geschenk an das Lübecker Orchester, das mir ans Herz – und ins Ohr – gewachsen war. Die Philharmoniker hatten schon mehrfach Musik von mir gespielt: 1985 "Ballet mécanique" für Kammerorchester (unter Ludwig Pflanz), 1987 "Passion" für Orchester (unter Matthias Aeschbacher), 1988 schon einmal das Cellokonzert (unter Michel Swierczewski, mit Andreas Grünkorn), 1996 "Tombeau" für großes Orchester (unter Erich Wächter). 1997/98 schrieb ich dann im Auftrag der Hansestadt Lübeck zum 100-jährigen Jubiläum der Philharmoniker die 7-sätzige "Symphonie" für großes Orchester (Uraufführung 1998 unter Erich Wächter). Den Titel 'Symphonie' wählte ich, weil ich hier mein symphonisches Schaffen noch einmal 'zusammen' fassen und eigentlich abschließen wollte, um mich anderen Aufgaben zuzuwenden. Nun wurde ich diesem Vorsatz untreu, um noch ein 'Apréslude' zu schreiben, später genannt "Gesang der Frühe".

Zwar ist das 'neue' Stück ja nicht so einfach 'schön' geworden. Es ist auch etwas von meinem Leben und Erlebten darin. Am Tag, nachdem ich noch mittags fröhlich mit Heinrich Schiff zusammen gesessen hatte, erfuhr ich vom Tod meines Bruders Reinhard. Das wirkte danach in verschiedene Kompositionen hinein, besonders in meine "Herbstsonate" für Bratsche solo (2004/05), dann in die Komposition "Ite missa est" für Orgel (2005), den Abschluß meiner "0rgelmesse". Zugleich eine Vorstudie für das geplante Orchesterwerk.

Symphonische Musik ist auch 'Bekenntnismusik'. Man stellt sich quasi 'vor den Vorhang' mit dem Versuch einer neuen Antwort auf die Frage: Wer bin ich? – Für mich stellt sich mein Leben und Arbeiten zunehmend als ein 'zyklisches' dar, in 'gewachsenen Ringen'. So begleitet das neue Anfangen auch die Erinnerung an Früheres, Früheres aus meinem Komponieren und imaginärem Dialog mit wahlverwandten Komponisten, Dichtern, Malern. – Der Titel "Gesang der Frühe" mag an Schumanns späten Klavierzyklus 'Gesänge der Frühe' erinnern, die Komposition ist aber keine Paraphrase darüber, keine 'Bearbeitung'. – Auf dem Komponiertisch kommt zunächst einmal alles, in einem wilden Durcheinander, zusammen, was in Hirn und Herz herumgeistert, will mit hinein ins Gewebe der Partitur, muß sich dann dem Filter von Bleistift und Radiergummi stellen. So mag man auch Allusionen an Schumann wahrnehmen, auch eine gewisse Affinität zur Romantik überhaupt, der ich mich verbunden fühle, – Romantik im weiteren Sinn, von Hölderlin, Novalis und Jean Paul über Schumann und Mahler zu Rothko, Francis Bacon und Ernst Bloch. Aber, was da so herumgeistert, wird beim Komponieren teils wieder ausgeschwitzt, teils assimiliert, so daß dann etwas eigenes und neues entsteht.

Wie auch immer eine Komposition bei mir 'zusammenkommt', macht sie sich dann, so auch hier, selbständig, stellt ihre eigenen Bedingungen. Was vielleicht erst ein 'liedhaft' Einfaches sein wollte, dann eine Art 'Fantasie' (Brief an Schumann), wurde schließlich das, was ich nur mit "Gesang der Frühe" betiteln konnte, – nicht, weil die Schreibarbeit sich hauptsächlich in den frühen Morgenstunden abspielte, nicht, weil Frühe auch mit Späte zu tun hat (und man im Späten wieder Frühe erkennt), sondern vor allem auch, weil es ein neuer Aufbruch war ('Frühe'?), zugleich ein großer "Gesang für Orchester", in einem durchgehenden Satz von ca. 20 Minuten, – in mehreren Stationen entwickelt, mit mehreren 'Aufschwüngen', Steigerungen darin. Die Komposition ist zwar im ganzen eher 'adagio' im langsamen Pulsschlag, doch zugleich vieldeutig im Übergang von Nachdenklichkeit und Tranquillo zu Sehnsucht, Schwelgen, Trauermarsch und Agitato – als Bestandteile des Vorüber. Der Schluß knüpft an den Anfang an: "wie aus der Ferne", erinnert aber nur ganz kurz, zeigt, daß wir woanders angelangt sind. Das selbe ist ein anderes geworden.


Brief an Schumann

… "Zum Raum wird hier die Zeit". – Wäre es doch so, daß ich Dir in diesem 'Raum' einmal persönlich begegnet wäre! Doch vielleicht bin ich es ja, trank mit Dir Rotwein, rauchte mit Dir Zigarren, fantasierte mit Dir über Florestan und Eusebius, Walt und Vult, Hölderlin, Jean Paul und Kapellmeister Kreisler, schimpfte mit Dir über die 'Philister'… Jedenfalls glaube ich, wie Du, um die Ambivalenz der menschlichen wie der musikalischen Natur zu wissen, daß das Eine nur ist, wenn man es auch im Entgegengesetzten denkt, daß die Musik nur die eine Seite der Kunst ist, daß wir von Jean Paul mehr Kontrapunkt lernen können als von Musiktheoretikern, daß die 'romantische Polyphonie' nicht nur eine Polyphonie der Stimmen ist, sondern auch eine der Stimmungen, und daß sie Zweifel (bis zur Verzweiflung) und Humor (bis zur bitteren Ironie) ebenso enthält.

Als Schüler spielte ich Deine Klaviermusik, – Papillons, Davidsbündlertänze, Allegro, Carnaval, Fantasiestücke, Fantasie, Sonaten, Kreisleriana … Überall hast du einen ganz eigenen 'Ton', diesen Ton über sich hinaus, diesen träumend empfindenden wie fantastisch sprechenden Ton, – wie später vielleicht nur noch einer: Gustav Mahler. Auch ein 'Davidsbündler'! Und in vielen Kompositionen warst du ein Ritter der freiesten Fantasie, fast Anarchie, deine Musik sprang oft – durch Selbstmotorik – aus dem Kasten der konvenierten Form heraus. Auch in Deinen Liedern, die heute so ganz selbstverständlich scheinen, wie zum Beispiel die berühmte "Mondnacht". Sie spricht jeder klassischen Harmonie- oder Formenlehre Hohn. Bzw.: sie ist einfach da, in aller unabhängigen Selbstverständlichkeit, sie kommt und geht, ein Naturereignis der zweiten Natur.

Und deine musikalische Leidenschaft. Gut: Beethovens "Appassionata". Doch: welche neue mitreißende Leidenschaftlichkeit in deiner Musik, – zum Beispiel die g-moll-Sonate: "So rasch wie möglich … Schneller … Noch schneller". Und doch auch wieder: das hinter den Tönen sein, das Schweigen in der Musik, – Deine Fantasie op. 17: "Durchaus fantastisch und leidenschaftlich vorzutragen"; und zugleich ihr Motto: "Durch alle Töne tönet / im bunten Erdentraum / ein leiser Ton gezogen / für den der heimlich lauschet". Wir hören das Sehnende, das Vorwärtsdrängende, dann wieder Zögernde, 'wie aus der Ferne'; das Umschlagen der Gefühle, das Ambivalente des Verschiedenen im Gleichen, des Gleichen im Verschiedenen, die Verbindung von Grübelei und Be-Geisterung, Aufschwung, Überschwang.

Deine Mitmenschlichkeit wie selten unter Komponisten. Du riefst Schubert in Erinnerung, machtest auf Chopin aufmerksam, fördertest Brahms. – Wie schwer aber machtest Du es Dir selbst, wie schwer machten es Dir auch die anderen. In Endenich wurdest du ausgesetzt und im Stich gelassen, trotz der Fürbitte Bettinas. Die Aufführung Deines Violinkonzertes – von den 'Freunden' Brahms, Joachim und Frau Clara verhindert, über Tochter Eugenie verhindert bis 1937!

Natürlich wurdest du – in Deiner Komplexität und Ambivalenz – von normierter Rezeption nicht leicht verstanden. – Hört man das 'durch die Töne Tönen' nicht, dann hört man Deinen 'Ton' nicht.

Bach war Dir wichtig, und die 'Klassiker'. Also probiertest du – in Fuge und Kanonik – auch den Bachschen Kontrapunkt – voller Ehrfurcht auch vor den Buchstaben 'b a c h', nachdem du doch schon mit deinen Tonbuchstabenspielen in deinen frühen Klavierwerken eine wunderbar vieldeutige 'Polyphonie' geschaffen hast, vieldeutig changierend zwischen Rationalität und Irrationalität. Du schriebst auch Sonatenformen, in Fortsetzung der Tradition, für die verschiedensten Besetzungen, in herrlicher Kammermusik sowie in deinen Konzerten und Sinfonien. Vielleicht 'sprengtest' du hier weniger die Form als in manchen frühen Klavierwerken, doch prägte immer Dein eigener Ton, Dein eigenes Träumen, Deine eigene Leidenschaft die Musik.

Die 4 Symphonien – jede ist anders. Ich wünschte mir zu meinem Lübecker Konzert deine 2. Symphonie, schon wegen des unendlich schönen langsamen Satzes. Die tiefe Melancholie des Beginns dieses Satzes (Nachhall des 'Musikalischen Opfers) – sie tönt nach in meinem 'Tombeau', den ich den Kielern Philharmonikern zu ihrem 75. Geburtstag und meinem Vater 'in memoriam' schrieb, – und jetzt wieder in meinem 'Gesang der Frühe'. Der schmerzlich weitgespannte Bogen der melodischen Entwicklung in Deinem 'Adagio espressivo', – nicht ohne Kontrapunkt (Florestan und Eusebius)! Und vorher das Scherzo (Viertel = 144!) – kreislerianisch! Und der erste Satz: welch ein Portal – aus C-dur-Ruhe und Quinten-Spannung entwickelt! Und das – oft mißverstandene – Finale (Halbe = 170!), in dem Du Schubertschen Musiziergeist potenzierst und das "Nimm sie hin denn, meine Lieder" aus Beethovens "An die ferne Geliebte" zu triumphaler Hymnik steigerst!»




Begegnung mit Malern
Dieter Roth – Brahms-Galerie – Günther Uecker – Schrift – Schweigen – "Hiob"

Wichtig war mir immer die Begegnung und Freundschaft mit Malern. Ein besonders enger Freund war Diether Roth, unerschöpflich in seinen Einfällen und voller Liebe zur Musik, professionell als Maler und Schriftsteller, als Musiker 'Dilettant' bzw. ein Dilettant, von dem auch der Musiker lernen konnte zum Thema Musik und Nichtmusik, zum 'und' zwischen Musik und Nichtmusik, immer neu zu fragen und zu suchen und zu finden, um wieder zu suchen, aus nichts etwas zu machen, aus etwas etwas anderes zu machen, oder mit Schönberg: die Welt so anzusehen, "daß alles, was man ansieht, durch die Art, wie man es ansieht, zum außergewöhnlichen Fall wird".

«Jeder kennt D.R. (Dieter Roth – Diter Rot?) als Maler bzw. Zeichner bzw. Plastiker bzw. Objektemacher bzw. Sammler&Verwerter. Viele kennen D.R. als Schreiber, Schreibzeichner und Zeichenschreiber: Bücher, Tagebücher, Kalender, Kinderbücher, Poeterien, Literaturwürste, Textübermalungen, Bildübertextungen, Filme, Schallplatten und so weiter.

Weniger kennen D.R. als Musikmacher, und auch Musik ist dann nicht nur Musik, wie Text nicht nur Text ist, Bild nicht Bild. Doch vielleicht gehörte der Musik seine größte Sehnsucht. (Das hatte wohl auch mit seiner Jugend zu tun, seiner musizierenden Mutter.)

D.R. war ein leidenschaftlicher Musikhörer. Seit wir uns kannten – seit 1976 – und so oft er bei uns war: immer wieder wollte er, daß ich ihm auf meinem Klavier vorspielte, am liebsten Schubert und Haydn, – dann zeichnete er dazu seine Dazuzeichnungen.

Oder er wollte auch selber Musik machen und "half" mir beim Komponieren, indem er mir Seiten schenkte mit von ihm geschriebenen Noten, zum Beispiel während meiner Arbeit zur 'Medea'-Oper, – Noten, die er selbst am besten lesen konnte, oder später die "Splittersonate" für Klavier (und Stimme), die ich für ihn spielen und aufnehmen sollte. Zu Beginn eine Notiz:

"die Splittersonate soll nie geübt werden / braucht nicht geübt zu werden (gern das 1. Mal prima vista im Konzert spielen und singen)"

Ich konnte sie nicht spielen, weder mit noch ohne Üben. Die Notation war äußerst eigen, Noten in Ansätzen und Aussätzen, irgendwie tastend, auch sich widersprechend, scheinbar richtig und doch falsch (was ist falsch?), zum Teil mit Zitaten, Texten, Bildern, Füllungen und Leerungen, jede Seite neu anzusehen, anregend und irritierend geschrieben, zwischen suchend und nicht findend.

Es gibt wunder-volle Schallplatten, die er oft zusammen mit seinen Künstlerfreunden aufgenommen hat. Die Musik, die Schallplatten wurden auch zu Briefen, wie die Bilder. Auf die innere Plattenhülle der "radio-sonate" schrieb er uns:

"Liebe Freunde, 3! ich will nicht ohne schöne Grüße an Euch durch die schwierig erscheinende Zeit des von euch entfernt Seins streichen… Euer D.R."

D.R. machte nicht nur mit sich und mit anderen Musik, er regte auch andere zum Musikmachen an, produzierte Konzerte und Schallplatten zum Beispiel von Nitsch oder von Sohn Björn und Freunden …, einmal auch von mir: eine Schallplatte "BLACK & WHITE / Improvisation für Diter Rot und e und h in Basel am 15. September 1977 um Mitternacht", gespielt und aufgenommen nach einer Flasche Black & White (die war gewissermaßen 'thematisch' vorgegeben).

1980 finanzierte D.R. an der Musik-Akademie Basel ein Konzert eines isländischen 'Sinfonieorchesters' (vorwiegend aus Studenten der Kunstakademie in Reykjavik) mit der 5. Sinfonie von Nitsch ("Dieter Roth herzlichst zugeeignet"), dirigiert von Nitsch. D.R. hatte die Vision und überzeugte mich, daß die Musik von Nitsch und ihre Aufführung in Basel wichtig sei, – und die Sinfonie klang gewaltig, das Orchester war einmalig, und es gab es nur für diesen Zweck, eingeflogen aus Island.

Unser Kontakt begann einige Jahre vorher zur Zeit meines Direktorats der Musik-Akademie Basel, bei einer Tinguely-Vernissage am 26. November 1976 in Basel. Ich sah D.R. und sprach ihn an: Sie sind mir bekannt als Maler und Autor, doch, wie ich von meinem Bruder Reinhard höre, spielen Sie auch Klavier, – auf eine besondere Art. Wollen Sie nicht einmal in der Musik-Akademie spielen? Honorar eine Flasche Whisky? D.R.: "Warum nicht". Später, beim Empfang in einer feinen Basler Familie, kam D.R. zu mir: "Du glaubst nicht, daß ich Klavier spielen kann?" – "Doch natürlich!" – "Ich beweise es dir. Wo ist ein Klavier?" – Im Keller. Auf dem Klavier stand eine Linzer Torte für das Dessert. D.R. spielte, gestaltete, entwickelte – unter der Linzer Torte, auf den Tasten, später auch mit seiner Stimme die "Geschichte von einem Schwein". – Es war ergreifend. Er spielte (und sang) – auf seine besondere Art.

Am 23. Februar 1977 war dann das Konzert in der Musik-Akademie, angekündigt als "Quadrupelkonzert" mit einem von D.R. selbst entworfenen Plakat, mit einer irritierend gezeichneten Anfangzeit, so daß manche Leute erst kamen, als das 'eigentliche Konzert' schon zu Ende war. Es ging dann aber erst richtig los: Improvisationen über das Thema "Leute, geht nach Hause!". – "Quadrupelkonzert"? Der Titel entstand im Taxi zwischen Kleinbasel und Großbasel. Er besagte: ein Konzert mit D.R. 'selbviert', vielleicht in vier Teilen, vielleicht mit vier Instrumenten. Das 'eigentliche Konzert' war von D.R. genau geplant. – Quadrupelkonzert: Teil 1 wird gespielt, aufgenommen, Teil 2 wird gespielt, zusammen mit Teil 1 (Tonband), Teil 3 wird gespielt, zusammen mit Teil 1 und 2 (Tonband), zum Schluß wird Teil 4 gespielt, zusammen mit Teil 1,2 3 (Tonband). Instrumente waren Klavier, Horn, Orgel, im Verlauf auch Stimme.

Den meisten Musik-'Akademikern' war das Projekt und die Aufführung unbehaglich, die Kunststadt Basel hatte ihre Freude daran. Der Galerist und unser gemeinsamer Freund Felix Handschin – der gleichzeitig (in der Vorbereitunsphase des Konzerts) eine D.R.-Ausstellung machte "cash & carry" – war genervt, weil D.R. sich während der Ausstellung – statt auf die zu malenden (und zu verkaufenden) Bilder – nur auf das Konzert spitzte. Es war für ihn offensichtlich wichtiger, näher, irgendwie 'existenzieller'.

Musik war für D.R. einerseits Existenz-(Angst?-)Bewältigung, andererseits kindliche Neugier. Er hatte oft etwas von einem Kind, zum Beispiel, wenn er beim Hören eines Konzerts immer wieder laut seufzte "Wie schön!".»

(Auszug aus Friedhelm Döhl 'Diether Roth und die Musik'. In: Diether Roth – Bücher und Editionen, Edition Hansjörg Mayer, Hamburg/London 2004. 78-82)

Diether Roth starb für uns viel zu früh (1998). So fehlt auch ein geplantes großes Bild von ihm in der

"Brahms-Galerie der Musikhochschule Lübeck", in der andere (befreundete) Maler einzogen:

Klaus Kröger, Laura Pearsall, Erasmus Zipfel, Johannes Grützke, Günther Uecker, Bernd Völkle, Armin Mueller-Stahl, Dietrich Fischer-Dieskau, Gunther Fritz

Jedesmal auch für mich ein kreatives Erlebnis, – die vorbereitenden Gespräche, der Weg zur Entstehung, das fertige Bild, das dann jeweils durch eine 'Ein-Bild-Vernissage' eröffnet wurde.

1990 war durch das Land Schleswig-Holstein das 'Brahms-Institut an der Musikhochschule Lübeck' gegründet worden, mit einem reichen Bestand an Autographen, Stichvorlagen, Abschriften, Briefen, Fotos, Früh- und Erstdrucken. Um diese Angliederung zu 'vitalisieren', wurde von mir das 'Brahms-Festival' initiiert, das seit 1992 jährlich stattfindet. Hier werden von Dozenten und Studenten der Musikhochschule Werke von Brahms und seinen Zeitgenossen aufgeführt und in den Kontext von Geschichte und Gegenwart gestellt. – Um auch einen intermediären Kontext zur Bildenden Kunst zu entwickeln, wurden punktuell seit 1993 immer wieder Künstler angefragt, ein Bild zum Thema Brahms zu malen, ob kommentierend oder kontrapunktierend oder wieauchimmer. So entstand nach und nach eine Reihe von sehr unterschiedlichen, individuellen Mal-Antworten, die ihrerseits einen imaginären 'Dialog' miteinander führen: eine besondere 'Brahms-Galerie'.

Ein enger Freund aus Düsseldorfer Zeit ist Günther Uecker. Während meiner Studienzeit lernte ich Werke der ZERO-Gruppe kennen, Uecker, Mack, Piene. Mich beeindruckte die Reduktion auf das Wenige und die methodische Konsequenz. Später in Düsseldorf begegnete ich dann Uecker persönlich. Wir diskutierten nächtelang über die Beziehung von Musik und Bild, von Klang und Licht, und schufen dann sogenannte "Klang-Szenen", 1970 in Düsseldorf und Edinburg, 1971 erweitert in Berlin.

In den achtziger Jahren arbeitete ich an meiner 'Oper "Medea", in enger Korrespondenz mit Uecker und seinen Bühnen-Skizzen, die dann aber vom Kieler Opernhaus, trotz ursprünglicher Zusage, leider nicht realisiert wurden.

Natürlich bemühte ich mich auch um einen Beitrag von Uecker zur 'Brahms-Galerie. Endlich 2001 war es so weit, – meine Frau und ich fuhren wieder einmal nach Düsseldorf und 'entführten' aus Ueckers Atelier ein großes Tuchbild (6,25 mal 3,05 m):

Ueckers "Optische Partitur für Brahms 2001". Aus der Einführung am 4.5.2001:

«Auf dem Weg zur Bild-Findung hörte Uecker viel Musik von Brahms, besonders das 'Requiem' – und hier besonders Satz VI: "Denn wir haben hie keine bleibende Stadt". Uecker bewegte zutiefst die Stelle:

Und wir werden verwandelt werden.
Dann, dann wird erfüllet werden
das Wort, das geschrieben steht

Wir empfanden sie gemeinsam als eine Schnittstelle in Brahms' 'Requiem'.
Sie wurde Schnittstelle zu Ueckers Bild.

In der Karwoche und über Ostern 2001 entstand Ueckers "Optische Partitur für Brahms". In wohl keinem anderen Bild ist Uecker so hautnah an der Musik. Er kniete sich buchstäblich in die Musik hinein, in das Hören und in die Notation. Er verwandelte die erlebte Musik in Quasi-Noten, in Bild-Zeichen, die sich über die Fläche bewegen. Eine gegliederte Fläche. Ein geschwärzter Balken – 3 m breit – schuf horizontale Linien für die Punkte, Gruppen, Felder und Gesten. Er 'rollte' hinab über die Fläche, – gestaltete – und erlitt die Gestaltung. Zuletzt liegt er als Gezeichneter, Gebrochener unter dem Bild.

Die Musik wird zum Bild ("zum Raum wird hier die Zeit"). Ueckers Bild wird zur Partitur, zur bewegten Notation ("zur Zeit wird der Raum"): Unsere Augen bewegen sich mit der Bewegung der Zeichen.

Wir sprachen über den Text "Dann wird erfüllet werden / das Wort, das geschrieben steht" – und auch über Schönbergs "Ein Überlebender aus Warschau", in Verbindung mit Ueckers "Ein Steinmal in Buchenwald" (dessen Foto-Dokumentation nun in der oberen Galerie der Musikhochschule hängt).

Uecker beschäftigte der Schluß von Schönbergs "Moses und Aron":

O Wort, du Wort, das mir fehlt!

Nachdenken über die Relation zwischen dem "Wort, das geschrieben steht" – und dem "Wort, das mir fehlt". Nachdenken über Ueckers Einbeziehung der Schrift in das Bild – und über Ueckers Bild-Text-Serie "Zum Schweigen der Schrift".» (FD)

Immer wieder Begegnungen bei Ausstellungen. Zur Eröffnung der Ausstellung 'Hiob' – im Rahmen der Reriker Kulturtage 2008 – in der Johanniskirche von Rerik fragte mich Uecker nach einem musikalischen Beitrag.

Es entstand relativ kurzfristig "HIOB. Zyklus für Orgel", Günther Uecker gewidmet. Uraufführung am 30.9.2008 durch mich – etwas abenteuerlich und sehr berührend – auf der quasi 'urigen' Reriker Orgel (mit 2 Manualen, Pedal, 15 Registern, 2 Koppeln), in einem alten schönen Kirchenraum. – Wie Uecker mit der Ausstellung in seine alte Heimat zurückkehrte, so ich mit dem Orgelspiel in meine Kindheit, nach der das Orgelspiel anderem weichen mußte.

Das Werk ist ein 'Zyklus' in 5 Stationen, die aus Impressionen (nach der Hiob-Lektüre) über Improvisationen (an der Reriker Orgel) zur notierten Komposition wurden. Dabei sind Erfahrungen aus früheren Werken (wie 'Melancolia', 'Orgelmesse') mit eingeflossen. – Bei der Uraufführung wurden zunächst zwischen den einzelnen Sätzen Hiob-Zitate gelesen, die mich vor der Komposition besonders beeindruckt hatten, – danach dann der Zyklus im Zusammenhang gespielt, ohne Text. Die Musik spricht für sich, der Text ist assimiliert, als Assoziation in den Satztiteln geborgen.

Bleiben/Gehen – Flüchtig – De profundis (Hiobs Klage) – Gesang der Frühe (Gottesrede) – Sühnung

Am inspirierendsten für mich – wie 2 tiefe Gongschläge – das Gegenüber von Hiobs Klage und Gottes Rede:

Aus Hiobs Klage:

«Du hast dich mir verwandelt in einen Grausamen und streitest gegen mich mit der Stärke deiner Hand. Du hebst mich auf und läßt mich auf dem Winde dahinfahren und vergehen im Sturm … Aber wird man nicht die Hand ausstrecken unter Trümmern und nicht schreien in der Not? … Ich wartete auf das Gute, und es kam das Böse; ich hoffte auf Licht, und es kam Finsternis … Ich bin ein Bruder der Schakale geworden und ein Geselle der Strauße. Meine Haut ist schwarz geworden und löst sich ab von mir, und meine Gebeine sind verdorrt vor hitzigem Fieber. Mein Harfenspìel ist zur Klage geworden und mein Flötenspiel zum Trauerlied.»

Aus Gottes Rede:

«Wo warst du, als ich die Erde gründete? … Weißt du, wer ihr das Maß gesetzt hat oder wer über sie die Richtschnur gezogen hat? Worauf sind ihre Pfeiler eingesenkt, oder wer hat ihren Eckstein gelegt, als mich die Morgensterne miteinander lobten und jauchzten alle Gottessöhne? … Hast du zu deiner Zeit dem Morgen geboten und der Morgenröte ihren Ort gezeigt? … Bist du zu den Quellen des Meeres gekommen und auf dem Grund der Tiefe gewandelt? Haben sich dir des Todes Tore je aufgetan, oder hast du gesehen die Tore der Finsternis? Hast du erkannt, wie breit die Erde ist? … Welches ist der Weg dahin, wo das Licht wohnt, und welches ist die Stätte der Finsternis, daß du sie zu ihrem Gebiet bringen könntest und kennen die Pfade zu ihrem Hause?»


"Anarchie der Stille" heißt ein Buch meines Basler Philosophen-Freundes Hans Saner, das mir besonders wichtig ist. Unter diesem Titel machte ich Ende der 90er Jahre mehrere Konzerte mit eigenen Kompositionen und Texten.

Andererseits: In meinem Atelier steht ein Regal: leer – bzw. voll mit ungeschriebenen Werken,

– sei es unter dem Motto von Hölderlin: daß, wenn die Stille kehrt, auch eine Sprache sei,

– sei es unter dem Motto von Michaux, das auch schon meinen 'Passages' für Klavier (1962) voransteht: Wenn nichts kommt, es kommt immer Zeit, Zeit …