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Friedhelm Döhl • Komponist

Friedhelm Döhl
Winterreise. Streichquintett


Manuskript zum Vortrag – Forum für Zeitgenössische Musik am musikwissenschaftlichen Institut der Universität Kiel, Kunsthalle Kiel, 2.2.2005.


präludien in kiel

schloß:
1983: 'tombeau. metamorphose für gr.orchester' (philharm. orch. kiel, ltg. klaus weise)
1985: liederabend karlheinz pinhammer/manfred fock: schubert 'winterreise' / döhl 'hölderlin-fragmente'
1986: kompositionsabend döhl, u.a.: 'bruchstücke ...', 'winterreise. für streichorchester', 'medea-monolog'
1987: schubertiade-ensemble (ltg. david geringas): döhl 'winterreise/streichquintett' und schubert streichquintett

opernhaus:
1990/91: 'medea. oper in 3 akten' (ltg. klauspeter seibel)



ich lerne immer mehr, daß ich meine musik nicht erklären kann. ich kann nur neben der musik herreden, hinweise geben (zB. über die entstehung), oder ein paar fäden auftüddeln, die in der musik verborgen sein mögen. dabei entsteht die gefahr, daß sich die gesamt-textur zugleich auflöst. der 'wald verschwindet hinter den bäumen'.


(zur ästhetik)

für meine 'winterreise' und auch für andere kompositionen nehme ich oft novalis' definition des romans und des romantischen in anspruch:

sonderbar vermischte situationen. häufung mehrerer rollen und zustände auf eine person zu einer zeit.

die komposition ist immer beides:
– für sich stehend,
– in beziehung zu anderem.

die komposition 'winterreise' kann wahrgenommen werden:

– als ganzes, mit all ihren abstrakt musikalischen 'inbeziehungen' ('intern'):

oder sie kann wahrgenommen werden, mit dem vorbehalt der uneigentlichkeit ('extern')

– im kontext zu meinen anderen kompositionen, vorher und nachher:
– als zur 'winterreise' hinführend: zB. hölderlin-fragmente, 'symphonie für cello und orchester', 'passion für orchester',
– als von der 'winterreise' weiter führend: medea-oper, klavierkonzert 'sommerreise', 'symphonie für gr. orchester', 'requiem 2000'.

– oder im kontext zu anderer musik, hier besonders zu schubert,

– oder im kontext zur poesie trakls.

man könnte also einerseits sprechen von musik über musik (döhl – schubert),
andererseits von musik über poesie (döhl – trakl).
doch das wort 'über' wäre schon falsch, besser wäre vielleicht: 'mit'
bzw. 'in einer gewissen korrespondenz mit' schubert oder trakl.


zur entstehung:

die entstehung hat viel mit kiel zu tun. –
mit einer vorgeschichte: 1969 komponierte ich für fischer-dieskau und aribert reimann den großen zyklus '…wenn aber… / 9 fragmente nach hölderlin / für bariton und klavier.
1 jahr später wurde er vom WDR und SFB produziert und wanderte durch die lande.
in einem kommentar hatte ich meinen hölderlin-zyklus damals als 'eine andere winterreise' bezeichnet, auch hier eine musikalische wanderung durch verschiedene wirrnisse bis zum stadium letzter (suizidaler) vereinsamung. –
als beispiel das jeweils letzte lied aus schuberts 'winterreise' und meinen hölderlin-fragmenten:

schubert      'der leiermann'
döhl   'an meine schwester'
[vortragsanweisung: "mezza voce (wie von einem anderen gesungen)"]
 

beispiele aus:
• schubert "winterreise" – döhl "…wenn aber…", (LP thorofon capella ATHK 311/2).
• döhl "bruchstücke zur winterreise" – "winterreise. streichquintett", (friedhelm döhl edition vol.1, dreyer-gaido CD 21013)


konzert in kiel und 'bruchstücke zur winterreise'

1982 kam ich von basel nach lübeck.
an der musikhochschule war als gesangsprofessor karl-heinz pinhammer.
dieser hatte – vielleicht veranlaßt durch meinen früheren kommentar – die kühne idee, in einem konzert meine hölderlin-fragmente mit schuberts 'winterreise' zu verbinden.
das geschah am 5.märz 1985 im kieler schloß, mit manfred fock am klavier.
wenig später hatte pinhammer einen tödlichen unfall.
(von dem konzert existiert eine aufnahme des konzertes, die später bei thorofon als schallplatte herauskam).

nach dem tod pinhammers verfolgten mich momente der schubertlieder, kreisten als bruchstücke manisch in meinem kopf. ich befreite mich, indem ich sie niederschrieb, – nur für klavier, ohne gesang. ich schickte sie dann manfred fock, dem klavierbegleiter und freund pinhammers, der die 'bruchstücke' dann als kompositionen ernst nahm und mehrfach spielte. sie erschienen später bei breitkopf als 'bruchstücke zur winterreise'.

es sind 7 lieder aus der 'winterreise', auf die ich mich bezog. das geschah ohne absicht, ich suchte die lieder nicht, – die lieder kamen so zu mir, verfolgten mich:

(I)      gute nacht      (1)
einsamkeit (12)
 
(II)   der greise kopf   (14)
die krähe (15)
im dorfe (17)
der wegweiser (20)
der leiermann (24)

schuberts lieder gelangten bei mir auf das notenpapier nur als 'bruchstücke' ihrer selbst. das schubertsche material wurde einerseits kaum verändert. andererseits wurde es radikal umfunktioniert, indem es quasi skelettiert wurde auf kleinste bestandteile ('decollage') und im charakter extrem zugespitzt wurde, – zu 'offenen wunden'.

als beispiele:

schubert      'gute nacht' (nr.1, anfang)
döhl bruchstück I

die begleitquinten verselbständigen sich hier zunächst (vorahnung des 'leiermanns'?).
von der melodie bleibt nur 1 motiv, die abwärtsbewegung wird fortgesetzt, mit der wiederholung und verkürzung des motivs, die dissonanz wird extrem zugespitzt.
eine entwicklung gibt es nicht mehr. für jedes 'bruchstück' gilt, wie es im vorwort der partitur steht: es 'kommt aus dem nichts, geht ins nichts'

schubert      'die krähe' (nr.15, anfang)
döhl bruchstück IV

die krähe, bei schubert 'etwas langsam', den wanderer quasi nur begleitend,
erscheint jetzt 'presto agitato', greift an, packt den wanderer ins genick,
überstürzt sich, sich selbst zerstörend, stürzt ins nichts.


auftrag aus bremen: streichquintett

war es zufall, daß im selben jahr 1985 mich eine anfrage von radio bremen erreichte,
ob ich für die bremer schubert-tage ein streichquintett schreiben wolle,
und zwar in derselben besetzung wie schuberts streichquintett, mit 2 celli.
das schubertsche streichquintett war eine große herausforderung,
die besetzung sagte mir zu: klanglich symmetrisch:
2 violinen – viola – 2 violoncelli.

ich stellte mir eine große quasi 'sinfonische' form vor, in einem durchgehenden satz,
als einen 'psychologischen prozeß', vielleicht im mehreren stationen.
die 5 instrumente sind, wie ich ins vorwort der partitur schrieb,

weniger 'solistisch' als 'sinfonisch'verstanden,
quasi als e i n 'orchestraler' organismus mit verschiedenen registern'.

hören wir den anfang:

döhl      streichquintett / anfang, t.1-11

in gewisser hinsicht ein 'schizophrener' klang:

dur gegen moll,
tiefe lage gegen hohe lage,
fff gegen pp,
akkordisch verschränkte 16-quartolen und -quintolen gegen lange einzeltöne,
die celli: 'risoluto (al tallone) feroce' – gegen violine und bratsche: flageolett, 'ohne ausdruck, wie ein schatten'.
das ganze, trotz der heftigen bewegung in den celli, flächig starr.
kein fortgang. – oder?
wir bemerken, in violine und bratsche, eine über die ganze stelle gedehnte kleinsekund-senkung 'es-d',
– und dann in t.11 ff. 'c'.

man kann das, so oder ähnlich, 'absolut' hören.

man kann das aber auch assoziativ hören, – assoziativ:
– zB. zur c-dur/c-moll-ambivalenz des schubertschen quintetts (satz I),
– oder, die abwärtssekunden es-d-c, zum anfang des bruchstücks I (aus 'gute nacht'): f-e-d.

hören wir jetzt weiter, die ganze station I, dann kann man sie
– einerseits als 'autonomen' musikalischen prozeß hören,
– andererseits 'in einer gewissen korrespondenz' zu den bruchstücken:
'der greise kopf' (in den pizzicato-tönen und kurzen ornamenten, t.13 ff.),
'die krähe' (in den sich verhakenden violinen, t.38ff., später erweitert auch auf die anderen instrumente,
das melos (1. motiv) von 'gute nacht' in der bratsche, t.40 ff. (später im 2. cello),
die quinten und einsamen figuren des 'leiermanns', t.45 ff.
usw.

wir hören 'sonderbar vermischte situationen', –
bzw. eine verknüpfung von bruchstücken, oder besser: von bruchstücken der 'bruchstücke' im labyrinth der komposition.

'musik über musik über musik':
musik / über meine 'bruchstücke' / über schuberts 'winterreise'?

doch die komposition, das musikalische geflecht, verschluckt die eventuellen assoziationen gleich wieder und zieht sie in den formpsychologischen prozeß.

winterreise. streichquintett / station I


musik und poesie?

meine 'winterreise', die vielleicht in der 'vorgeschichte' einmal anfing bei hölderlin, assoziierte dann während der komposition auch trakl, – aber nicht auf die eindeutige weise einer 'programmatik', sondern vieldeutig, als mögliche 'assoziations-farbe'.
d.h. die gedanken an trakl (mit dem ich kompositorisch oft zu tun hatte, zuletzt in der 'passion für orchester') stellten sich während der komposition des streichquintetts ein; sie begegneten schubert auf meinem schreibtisch und wollten irgendwie auch in die musik.

es waren dann 7 gedichte trakls –
und aus den 7 gedichten dann wieder 7 text-bruchstücke (nach bense 'dünnschliffe'),
welche die 7 stationen des streichquintetts begleiteten – und die im vorwort der partitur abgedruckt sind.

die überschrift der station I , die wir eben hörten, ist 'presto'
– und, in klammern dahinter: ('melancholie').
das im vorwort abgedruckte entsprechende textbruchstück lautet:

… bläuliche schatten o ihr dunklen augen
die lang mich anschaun im vorübergleiten …

? – hilft diese textassoziation dem hörer? helfen ihm die assoziationen der döhl-schubertschen 'bruchstücke'?

hören wir nochmal

winterreise. streichquintett / station I
überschrift presto ('melancholie')


7 stationen

der musikalische formprozeß des quintetts geht durch 7 stationen, die jeweils durch eine tempoangabe und 'poetische klammer' betitelt sind. die 'poetische klammer' kann man, muß man aber nicht, auf 7 trakl-gedichte beziehen und hier dann auf die jeweiligen (im vorwort der partitur abgedruckten) textbruchstücke:

döhl: 'winterreise'     (trakl)
  
I presto ('melancholie')
… bläuliche schatten o ihr dunkeln augen / die lang mich anschaun im vorübergehen …
  
II sostenuto ('de profundis')
… gottes schweigen / trank ich aus dem brunnen des hains // auf meine stirne tritt kaltes metall …
  
III presto desolato ('trompeten')
… fahnen von scharlach stürzen durch des ahorns trauer / tanzende heben sich von einer schwarzen mauer … fahnen von scharlach lachen wahnsinn trompeten …
  
IV sostenuto ('an die schwester')
… leise der flug der vögel tönt / die schwermut über deinen augenbogen …
  
V adagio ('nachts')
… dein blauer mantel umfing den sinkenden …
  
VI presto quasi maniaco
…presto infocato
('nachtwandlung')
… müde der wildnis und verzweiflung finsterer wintertage / kam auf glühendem flügel ein traum zu mir …
  
VII   sostenuto
…canto animato
('nachtergebung')
… mönchin schließ mich in dein dunkel …

man erkennt eine gewisse symmetrie der großformalen anlage:

presto – sostenuto – presto – / sostenuto – adagio / – presto … – sostenuto

eine formpsychologische steigerung zur mitte hin (presto – sostenuto – presto),
ein ruhepunkt in der mitte (sostenuto – adagio),
dann wieder eine formpsychologische kurve zum ende hin (presto quasi maniaco / presto infocatosostenuto).

zum 'ruhepunkt' in der mitte: station IV und V, –
2 relativ kurze stationen in langsamem und extrem langsamen tempo (viertel = 60, viertel = 40):

station IV / sostenuto ('an die schwester')

2 mögliche assoziationsrichtungen:

a) döhl-fragment V (schubert-lied nr. 17 'im dorfe' )
b) trakl-bruchstück 'an die schwester'

die entsprechenden texte –
schubert/müller: 'es bellen die hunde …, es schlafen die menschen …,
träumen sich manches, was sie nicht haben'

trakl: '… leise der flug der vögel tönt
die schwermut über deinen augenbogen ...'

– sind kaum aufeinander beziehbar.

d.h. die musik hat das primat.
doch sie ist vieldeutig,
sie kann gewissermaßen von verschiedenen seiten gehört werden.

station V / adagio ('nachts')

2 mögliche assoziationsrichtungen:

a) döhl-bruchstück III (schubert-lied nr. 14 'der greise kopf')
b) trakl-bruchstück 'nachts'

die entsprechenden texte –
schubert/müller: 'der reif hat einen weißen schein / mir übers haupt gestreuet / … wie weit noch bis zur bahre!'
trakl: '... dein blauer mantel umfing den sinkenden ...'

– sind wieder kaum aufeinander beziehbar. es sei denn im spiegel der musik.

wichtiger als die frage der verschiedenen fäden der entstehung, als die frage der möglichen assoziationen ist das musikalische ergebnis:

die dramaturgische funktion dieser beiden stationen als ruhe- und mittelpunkt der sinfonischen entwicklung.

station IV und V (+ anfang VI)

dem adagio folgt mit einem gestaffelten 'presto' die finale steigerung:

station VI / presto quasi maniaco … sostenuto … presto infocato
('nachtwandlung')

die station VI knüpft an elemente früherer stationen an, besonders an die sturzbewegung der 'krähe' aus station I, die virtuos gesteigert wird und dann mit einem lang auskomponierten decrescendo zur abschließenden station VII überleitet.

der beginn der station VI (t.242-245) zeigt besonders deutlich die verschränkung der 'bruchstücke der bruchstücke':

vertikal die akkordik der station V ('der greise kopf'), incl. berg-akkord ('wir arme leut'), horizontal 'die krähe' (violinen) und 'der leiermann' (celli).

station VII / sostenuto ('nachtergebung')

station VII intoniert erst über einer ostinaten akkordwiederholung das bruchstück VI (schluß des 'wegweisers') und dann über den quasi durchdrehenden quinten den anfang des schubertschen streichquintetts: in hoher lage gedehnt und im flageolett irrealisiert.

stationen VI-VII ganz


nachwirkung der 'winterreise'

die komposition 'winterreise. streichquintett' steht einerseits für sich, ist ein in sich geschlossenes und abgeschlossenes werk. andererseits steht sie in korrespondenz mit den vorausgegangenen und folgenden kompositionen. – so wird die folge der kompositionen selbst wieder zur 'komposition': komponieren als ein 'work in progress'.

wie frühere kompositionen in die 'winterreise' hineinwirkten, so wirkte die 'winterreise' wieder in spätere kompositionen hinein,
deutlich zB. in den 2. und 3. akt der oper 'medea' (1990)
– und – auf dem weg über die oper – dann etwa in die
'symphonie für großes orchester' (1998), zB. in das finale, satz VII

meine erklärungen können nur hinweise sein. –
die eventuelle erkenntnis irgendwelcher 'zitate' können wie 'krähen' sein, die sich ins genick der wahrnehmung beißen. –
es gilt nur das (unzerstückelte) ganze, das nur im – unvoreingenommen – hörerlebnis zur realität wird.

(von arnold schönberg wird folgende 'treffliche' anekdote berichtet:

schönberg stritt einmal mit einem jungen mann über kunst.
im verlauf des gesprächs rief der junge mann: 'das kann ich beweisen!'
schönberg entgegnete: 'in der kunst kann man gar nichts beweisen.'
und nach einer pause: 'und wenn – dann nicht Sie!'
und nach einer neuerlichen pause: 'und wenn Sie – dann nicht mir'
.)




zum ausklang

ein unzerstückeltes ganzes (- bzw. ein ganzer teil eines ganzen):

sommerreise. klavierkonzert / satz I. allegro
(friedhelm döhl edition / dreyer-gaido, vol.6)

komponiert in 2 anläufen: 1994 und 1997.
ich wollte der düsternis der 'winterreise' etwas leichteres und lichteres entgegenstellen.
doch in der kadenz des 2. satzes moduliert das klavier über schönberg- und don-giovanni-farben zu schuberts 'gute nacht', aus der es sich dann nur mit mühe befreien kann (um schließlich doch zu einem lichteren ende zu gelangen).

satz I ist mir auch als beispiel wichtig, weil es mir in meinen kompositonen von anfang an immer auch um das ineinander von 'klang und form' geht. exemplarisch etwa in:

'melancolia' / magische quadrate für großes orchester mit chor und sopransolo (1967)
(satz I: entwicklung aus einem engen cluster zu einem weitgespreizten akkord)
'sound of sleat' / streichquartett (1971)
(formprozeß zwischen den kraftfeldern von 2 schönberg-akkorden)
'zorch' /sound-scene für big band und 3 offene flügel (1972)
(formgenese aus einem einzelton über seine auffächerung in eine vieldeutige
klanglandschaft zu einem großen klangkarussel / collage historischer schichten)

in 'sommerreise' / satz I (allegro) entwickelt sich die form aus einem einzelton und seiner repetition, über seine obertöne, über pentatonik und diatonik, skalenmixtur und diatonische cluster, chromatik und 12-ton-konstellation zu 'hymnischer' akkordstruktur.

zitate? – zB. begegnet czerni der medea.

keine zitate! – sondern geschichte und 'schichten' als bestandteile meiner sprache.
meine musik ist wie eine eigene wohnung mit verschiedenen wahlverwandten und anverwandelten bildern.

am anfang und schluß von 'sommerreise' / satz I klingt ein indianerlied an:

auf einer eisscholle im fluß – / ich grüße den sommer.