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Friedhelm Döhl • Komponist

Friedhelm Döhl
Fragment über Musik – über meine Musik


In: Programmheft zu den Donaueschinger Musiktagen 1980. 23-25


Musik – heute? Eine noch nie möglich gewesene (durch technische Mittler verfügbare) Vielfalt: von der 'neuen Musik' in ihren verschiedensten Richtungen zur wiederbelebten Musik des Mittelalters, dazu – nicht nur im Nebenraum – Jazz, Rock, Pop et cetera, außerdem – nicht mehr nur am Horizont des Abendlandes – arabische, afrikanische, indische, balinesische, japanische Musik.

Komponieren – heute? Warum noch zu alledem? – Warum nicht? (eine beliebte Frage Mozarts).

Neu? Auch in der 'neuen Musik' gelten Moden, oft Reaktion auf unbewältigte Gegenwarten. Man propagiert etwa eine 'neue Einfachheit'. Nachdem noch vor wenigen Jahren die Musik nicht kompliziert genug sein konnte: ist es heute leichter, 'einfach' zu sein? Oder man propagiert eine neue 'Romantik'. Nachdem man die Romantik vorher beschimpft oder ignoriert hat: weiß man nun, wovon man redet, auf was man sich im Grunde einlassen müßte?

Musik, will sie ansprechen, muß sich Ansprüchen stellen. Webern zitiert einmal ein Wort von Karl Kraus, daß das Schicksal der Menschen vom richtigen Beistrich bestimmt sei. Zum Nachdenken.

Adornos Frage, ob man nach Auschwitz noch Gedichte schreiben könne, gilt immer. Die Möglichkeit des Menschen, sich selbst und seine kleine Kugel zu vernichten, ist potenziert. Langsamer, doch überall in der Welt, töten Unterdrückung und Ausbeutung. Da hilft vielleicht politische Vernunft, wenn sie zur Freiheit führt. 'Politische Musik', als Fahne geschwungen, geriet dagegen fast immer zu manipulierter Marschmusik.

Komponieren – heute? Wohl nur im Wissen um… Der Mythos des Sisyphos und Blochs Prinzip Hoffnung machen die Erde mühsam, aber körnig. Das Wort des Cherubinischen Wandersmannes 'Mensch werde wesentlich' ist immer aktuell. Älter werdend, erscheint uns die Zeit kostbarer. Die Menschheit im ganzen ist älter, sie weiß, daß die Sonne langsam ausbrennt. Die hilfreiche Frage, was man täte, wenn man nur noch ein Jahr zu leben hätte, oder eine Woche, oder einen Tag. Würde ich komponieren? Was?

Musik als Möglichkeit der Entdeckung eigener und fremder Orte und Wege. Wie jede kreative Tätigkeit. "Machen wir eine kleine Reise ins Land der besseren Erkenntnis. Über den toten Punkt hinweggesetzt sei die erste bewegliche Tat (Linie). Nach kurzer Zeit Halt, Atem zu holen (unterbrochene oder bei mehrmaligem Halt gegliederte Linie). Rückblick, wie weit wir schon sind (Gegenbewegung). Im Geist den Weg dahin und dorthin erwägen (Linienbündel) … Drüben treffen wir einen Gleichgesinnten, der auch dahin will, wo bessere Erkenntnis zu finden …" – Klees "Schöpferische Konfession" als Kompositionslehre.

Mein Rückblick heute, mit 44: HÄLFTE DES LEBENS, zugleich Titel einer meiner ersten Kompositionen (1959), nach Hölderlin, für Chor und Instrumente, noch 'romantisch'. Ähnlich damals VAGANTEN-LIEDER, nach Texten meines Bruders Reinhard Döhl, und TRAKL-LIEDER. Heute sehe ich – nach längeren Wanderjahren – die Distanz. Doch sehe ich auch, aus gewandelter Perspektive, gemeinsames. Entwicklung – als Verwurzelung: Bach und Wagner, Mahler und Webern, zugleich Novalis und Jean Paul.

Wenig später, im Banne Weberns (den ich gründlich analysierte), die unvermeidliche Auseinandersetzung mit der seriellen Technik: OKTETT, KLANGFIGUREN für Bläserquintett, viele Stücke für Klavier (das Instrument, mit dem ich aufgewachsen war), Rondo-Variationen, Szenen, Spiegelungen.

Dann als – wie es zunächst schien – ent-scheidender Schritt in unbekanntes Land, zu Eigenerem, als Lösung von den geerbten und geübten Programmen und Formeln: PASSAGES für Klavier (1962). Im Titel eine Hommage an Henri Michaux, dem ich die Befreiung meiner Gestik dankte, zunächst in 'informellen' Bildern und Texten, dann musikalisch. Nach den PASSAGES komponierte ich in relativ dichter Folge die beiden DUOS für Flöte und Klavier OCULAPIS und JULIANISCHE MINUTEN, die Gesangszyklen 7 HAIKU für Sopran, Flöte und Klavier, FRAGMENT SYBILLE (nach Hölderlin) für Bariton und Instrumente, EPITAPH TICH YUANG TUC für Sopran und Kammerensemble, sowie die TOCCATA für Flöte, Trompete, Klavier und Cembalo.

Spontaneität und rationale Durchdringung erwiesen sich auf die Dauer nicht als Gegensätze, sondern als Nachbarn, einander abwechselnd, sich mehr oder weniger aufeinander beziehend, im Verlauf der Zeit zunehmend ineinander greifend.

Schon in der 'spontanen Niederschrift' der PASSAGES fanden sich, fast von allein, klangliche und strukturelle Gesetzmäßigkeiten ein: Gesichtspunkte des Ein- und Ausschwingens, der Komplementarität. der Balance, der (nicht unbeziehbaren) Überraschung, der organischen Veränderung in assoziativen und dissozativen Figuren und Gesten.

Schrieb ich später wieder bewußter strukturierend – wie in den Duos TAPPETO (nach Ungaretti) für Cello und Harfe, PAS DE DEUX für Violine und Gitarre und, vor allem, in meiner ersten Symphonie MELANCOLIA / MAGISCHE QUADRATE (1967/68) für Orchester, Chor und Sopransolo -, dann resultierte die Musik doch aus emotionalen Quellen, in mehreren Schüben zu einer Form werdend, die einer 'magischen' Beschwörung glich wie etwa das mystische Zahlenquadrat 'Melancholie'… Die Ambivalenz von Rationalem und Rituellem… Die Ambivalenz von Einfachem und Komplexem… Die Ambivalenz von Transparenz und Mystik… Die Ambivalenz von Klang und Form…

Bloße Eindeutigkeit hat mich wenig interessiert, auch nicht in den Textvertonungen, ob in den 7 HAIKU oder in dem Zyklus, den ich nach der MELANCOLIA schrieb: ...WENN ABER... / 9 Fragmente nach Hölderlin für Bariton und Klavier (1969). Die Textwahl war symbolisch für meinen Eindruck der Welt, den ich ausdrücken wollte. Texte des mittleren Hölderlin, als dieser in den Rissen der ihm aufbrechenden Welt herumtastet, die verschiedenen Zeiten und Räume aufeinander bezieht. Doppelbödigkeit von Musik (als Sprache) und Sprache (als Musik).

Novalis sieht in der Sprache einmal ein reines 'Verhältnisspiel', ein andermal im Kunstwerk die "Häufung mehrerer Rollen und Zustände auf eine Person zu einer Zeit". Beides ist kein sich ausschließender Gegensatz, sondern eine komplexe Wechselbeziehung. Unsere kompositorische Situation.

Das Fragment, unter der Lupe kompositorischer Näherung, wird zum Labyrinth. Das Labyrinth unserer Existenz nur als Fragment faßbar.

Die Vieldeutigkeit musikalischer Möglichkeiten versuchte ich zu übertragen auf musikalisch-poetisch-szenische Vorgänge, die ich MIKRODRAMEN nannte. Detlef Gojowy fand für sie auch den Begriff "instrumentierte Poesie": "Sprache unterliegt der Zersplitterung, Reflexionen und kontrapunktischen Engführungen".

In SÜLL für Soloflöte (Darsteller), Sprecher und Requisiten (1972) verlieren sich der 'Solist' und sein Instrument auf Abwegen, die Requisiten wuchern, überwuchern ihn. In A & O für einen Sprecher selbviert (1973) drängen aus dem einen Sprecher vier und mehr verschiedene Rollen, stülpen ihn um zu einem multipolaren Wesen. In ANNA K / INFORMATIONEN ÜBER EINEN LEICHENFUND für Sprecher und Lautsprecher (1974) führt die Ausweglosigkeit eines anonymen menschlichen Schicksals – versteckt in dem Gewirr der Zeitungsmeldungen und der politischen Systeme – zur Desillusionierung, zur Dekomposition. Extremfall ästhetischer Formulierung an dem Punkt, wo es einem die ästhetische Sprache verschlägt.

'Labyrinthe' von Beziehungen und Bedeutungen. Aber auch in den scheinbar 'rein musikalischen' Kompositionen dieser Zeit: in den TEXTUREN für Soloinstrumente (1971), I für Flöte, II für Klavier, in der Sound-scene ZORCH für Orchester (Big-Band) und drei offene Flügel (1972), in den kammermusikalischen Endspielen SOUND OF SLEAT für Streichquartett (1971) und SOTTO VOCE für Flöte, Cello und Klavier (1973), später in der SZENE ÜBER EINEN KLEINEN TOD für Sopran, Flöte und Cello (1975). Fritz Muggler sprach hier von "einer neuen Art des instrumentalen Theaters", in der die "Semantik des Gestus" wieder Bedeutung gewinne, "die, ohne eine Geschichte zu erzählen, außermusikalische Bedeutung im Musikalischen erschließt".

Poesie wie Kunst sind mir oft imaginäre Korrespondenten bei der Entstehung meiner Musik.

Häufig spielen Texte auch dann, wenn sie nicht, direkt gesungen werden, eine korrespondierende Rolle. So in den Instrumentalpartituren ODRADEK für zwei offene Flügel (1976) – beziehbar auf Kafkas Erzählung 'Die Sorge des Hausvaters' , IKAROS, Ballett für Orchester (1977/ 78) – beziehbar auf ein Gedicht von Erik Lindegren, DER ABEND/ DIE NACHT für Flöte und Cello (1977/79) – beziehbar auf Trakl-Gedichte, oder, von den früher genannten Kompositionen, TAPPETO – beziehbar auf Ungaretti, SOTTO VOCE – beziehbar auf Beckett.

Aber auch, wenn ich Texte direkt vertone, dann nie parallel nebenher, quasi draußen stehend, sondern in die Texte verhakt, mitten darin, betroffen. So in den letzten Jahren im Liederzyklus UNTERWEGS, 7 Stationen für Sopran und Klavier (1976/78), im Chor-Requiem AUF SCHMALEM GRAT (1978) und – vor allem – in MEDEA, Szene für dramatischen Sopran und Kammerorchester bzw. Kammerensemble (1979/80). Der große 'innere Monolog' der Medea in auswegloser Lage, vor ihrer Implosion, vor dem Kindermord. Eine Betroffenheit, die musikalisch zugleich nach außen drängt, zur 'Oper', welche ja weniger 'tot' ist, als sie gesagt wurde, und vielleicht noch immer die stärkste Möglichkeit, Betroffenheit auszulösen auch beim Hörer. Geht es in der MEDEA um eine 'psychologische Extrem-Situation', so geht es auch in meiner anderen Musik – wie Claus Henning Bachmann sie analysierte – "um das ' 'Subkutane', unter der Oberfläche von musikalischer Struktur Liegende, unter der 'Haut' von Musik Befindliche".

Ins weiträumig offene Environment, scheinbar abstrakter, gingen meine früheren KLANG-SZENEN I für Live-Elektronik (1970) und II für Live-Elektronik, Ensembles, Objekte und Lichtvorgang 1971), die ich zusammen mit Günter Uecker in der Kunsthalle Düsseldorf und in der Nationalgalerie Berlin realisierte. Die Darstellung eines ambivalenten Klang-Raumes, welcher den Hörer in sich hinein nimmt, seine Wahrnehmung aktiviert für den oft minimalen Prozess von Zustand und Veränderung.

Und nur scheinbar ist es ein umgekehrter Vorgang, wenn Klangvorstellungen von innen nach außen drängen, oft momenthaft, in 'Stücken', wie in den Klavierzyklen der letzten Jahre: PORTRAITS (1977/78), TRAUM-STÜCKE (1978), HAIKU (1979). Die intensive Kürze der TRAUMSTÜCKE, in denen die Träume "Frost", "Leere Schritte/Leere Brücke" und "Tod waagrecht/ senkrecht" zum Klang froren, und die ein- bis mehrstündige Extensität der KLANG-SZENEN sind nur äußerlich Gegensätze. KLANG-SZENE II ist Ernst Bloch gewidmet und seinen 'Spuren': "Ich bin. Aber ich habe mich nicht. Darum werden wir erst." …

Das FRAGMENT ("KYRIE ELEISON") für Orgel – im Frühjahr 1980 für Zsigmond Szathmáry komponiert – ist 'Fragment' im früher angedeuteten Sinn. Als Ausschnitt aus dem Labyrinth unserer musikalischen Möglichkeiten, als Teilausdruck von diesen. Vielleicht auch Beginn eines größeren Zyklus.

Zugleich Rückerinnerung an meine musikalische Kindheit, als ich, die Pedale mit den Füßen kaum erreichend, auf einer Orgelbank saß in einem kleinen Dorf mit dem schönen Namen Odenspiel, improvisierend ohne Ende, traumverloren. Später wurden Orgel wie Kirche zum Problem. Im neuen Stück nun Ausgang von einfachen Elementen (Ton und Farbe, Intervall und Cluster, periodischer und aperiodischer Rhythmus, Gestik und Feld). Versuch, entsprechend den Bedingungen der Orgel, 'Punkt und Linie zur Fläche' zu formen.

Die Töne zu Beginn und Ende bilden ein Halbtonintervall, zugleich ein stationäres Tongewebe. Erinnerung eines alten Klagerituals? Versteinert als nicht mehr mögliches – oder noch nicht wieder mögliches 'Kyrie eleison'?

Zugleich eine fixe Idee. Wie vielleicht das Komponieren überhaupt. Wie vielleicht das Leben.