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Friedhelm Döhl • Komponist

Friedhelm Döhl
Sinn und Unsinn musikalischer Form


Vortrag – Damstadt 1963. In: Terminologie der Neuen Musik (Hg. Rudolf Stephan), München 1965. 58-69


Es geht im folgenden nicht so sehr um bestimmte Formkategorien als um den Begriff der musikalischen Form überhaupt. Musikalische Form steht nicht "festgemauert in der Erden", noch kann man sie "getrost nach Hause tragen". Dem festen Zugriff entzieht sie sich. Sie ist immer anders, als Analysen und Definitionen glauben machen wollen. Definitionen sind – künstlerisch gesehen – mißlich, solange sie sich nicht von Mal zu Mal aufheben und neu formieren. Definitionen, die sich von Mal zu Mal aufheben, sind nicht länger Definitionen. Musik ist Sprache ihrer selbst, sie definiert sich selbst. Mein Vortrag kann also nicht den Sinn haben, eine neue Terminologie vorzuschlagen, sondern nur, die alte Terminologie, jede Terminologie überhaupt in Frage zu stellen. Soweit Definitionen vorkommen, mögen sie als Fragestellung verstanden werden. Was ich zu sagen (fragen) habe, sei unter drei Gesichtspunkten zusammengefaßt:
1. Künstlerische Phänomene sind nicht in die Kategorien einer Formenlehre, welcher Art auch immer, zu zwingen.
2. Die moderne Formauffassung wurzelt in der romantischen Ästhetik.
3. Die serielle Musik steht als Sackgasse bzw. als Durchgang zwischen einer ersten und zweiten Periode informeller Musik.

I

Am 28. Februar 1778 schreibt Mozart an sein Bäsle: "Ich bin, ich war, ich wär, ich bin gewesen, ich war gewesen, ich wär gewesen, o wenn ich wäre, daß ich wäre, wollte Gott, ich wäre; ich würde sein, ich werde sein, wenn ich sein würde, o daß ich sein würde, ich würde gewesen, ich wäre gewesen sein, o wenn ich gewesen wäre, o daß ich gewesen wäre, wollte Gott, ich wäre gewesen. – Was? Ein Stockfisch." Auch berichtet Mozart die "Aufsehen" erregende Geschichte vom Schäfer, der 11 000 Schafe über eine enge Brücke treibt, eins um das andere. "Nun haben Sie nur die Gewogenheit und warten, bis die 11 000 Schafe drüben sind, dann will ich Ihnen die ganze Historie auserzählen; ich habe Ihnen vorher schon gesagt, daß man den Ausgang noch nicht weiß; ich hoffe aber, daß, bis ich Ihnen schreibe, sie gewiß drüben sind, wo nicht, so liegt mir auch nichts daran, wegen meiner hätten sie herüben bleiben können."

Was Mozart beschreibt, der sogenannte Inhalt des Briefes, ist ein Nichts. Ein Nichts ist auch die Form, wenn man sie an den Formkategorien eines zeitgenössischen Briefstellers mißt. Und doch folgt man dem Brief mit ästhetischem Vergnügen.

Die Ästhetik Schillers belehrt uns, daß das "Kunstgeheimnis des Meisters" darin besteht, "daß er den Stoff (das Inhaltliche) durch die Form vertilgt". "Schönheit ist Freiheit in der Erscheinung". Mozarts Genius hat es leichter als der Schillersche "Meister", um zur "Freiheit in der Erscheinung" zu gelangen. Er braucht nicht erst einen Stoff zu "vertilgen". Er hat die Gabe, aus jedem Nichts ein ästhetisches Etwas zu machen. Die Tatsache, daß auch Mozarts Briefe zu ästhetischer Wirkung gelangen, beruht auf der Souveränität, mit der Mozart die Kategorien des Inhalts und der Form brüskiert. Die Freiheit des ästhetischen Objekts beruht auf der Entscheidungsfreiheit des schaffenden Subjekts. Mozart spielt mit und gegen die Norm. Die Sequenz "Ich bin, ich war, ich wär" usw. wirkt wie eine grammatische Übung mit überraschenden Abweichungen. "Ich wäre gewesen sein" ist grammatisch falsch. "Wollte Gott, ich wäre gewesen" – gibt wenig Sinn. Die Anrufung Gottes evoziert einen Anspruch, der mit "Stockfisch" im Banalen versandet. Die Verbindung von Nichtigkeit und Nichtigkeit wirkt ebenso überraschend wie die spielerische Vermittlung von Kontrasten, sei es "Gott" und "Stockfisch" oder wie die plötzliche Störung oder Abweichung. Die Erzählung von den 11 000 Schafen weckt eine Erwartung, die dann überraschend nicht erfüllt wird. Die Norm hebt sich im Spiel auf.

Kunst steht jenseits der Norm. Man zweifelt nicht, daß Mozart – wie er seinem Bäsle ein andermal mitteilt – schreiben kann, wie er will, "schön und wild, grad und krumm". Sei er "übels Humors", schreibe er "schön, gerade und ernsthaft"; sei er gut "aufgereimt", schreibe er "wild, krumm und lustig". Mozarts Kompositionen bestätigen, was seine Briefe vermuten lassen. Äußerlich im Gewande der Zeit, kommt es doch immer anders, als die Erwartung denkt. Die "Regel", die "Konvention" wird ständig überspielt. Mozarts Spiellaune hält ständig Überraschungen parat: plötzliche Sprünge, Fallen, Abwege, Umwege, Ornamente, Schwänze, Verlängerungen und Verkürzungen der Periodik, harmonische Ausflüge in Gefilde fast 12-töniger Chromatik, usw. In der überraschenden Abweichung lebt Mozarts Musik im Ernsten wie im Heiteren. Das gibt dem Heiteren Ernst und dem Ernsten Heiterkeit.

Sonate und Fuge, Rondo und Variation sind weniger als Formen zu bezeichnen denn als Formprinzipien, die in der Hand des Meisters zu individueller Formgestalt finden.

Ich will nicht übersehen, daß Formbegriffe wie Vor- und Nachsatz, Periode und 8-taktiger Satz, 3-teilige Liedform, Reprisenform, Rondoform, Sonatenform und andere erst mit der Wiener Klassik zu der konzeptiblen Klarheit gelangten, durch die sie die Formenlehre bis heute prägten.

Andererseits wurde mit der begrifflichen Vergewisserung für den Komponisten die Abweichung quasi zur Aufgabe. Die Komponisten seit der Klassik sind sich ihres subjektiven Auftrags bewußt. Die mehr und mehr individuellen Formungen widerstreben fixierten Kategorien. Beethovens formale Eigenwilligkeit ist bekannt. Es sei hier nur auf zwei weiterführende Momente hingewiesen:

1. Beethoven vereinigt verschiedene Formprinzipien wie Fuge und Liedhaftigkeit, Sonate und Variation, vor allem in seinen späten Sonaten und Quartetten, und ermöglicht damit neue individuelle Formen.

2. Ein merkwürdiges Charakteristikum des Beethovenschen Spätstiles, auf das Adorno hingewiesen hat, ist, daß Beethoven Formeln zitiert, um sie ihres Formelcharakters zu entblößen.

Die Synthese der Formprinzipien und die Paradoxie der Formel haben einen vergleichbaren dialektischen Sinn: Sie zielen auf die Befreiung der Form von der Kategorie, auf die Unmittelbarkeit der Form.

Den theoretischen sanktionierten Formkategorien werden am ehesten die Kleinmeister und die Eklektiker, die Klassizisten bis heute, gerecht. Man ist versucht, die Gleichung aufzustellen: Je größer der Komponist – desto unwichtiger die Formkategorie.

So simpel sind indes leider die Verhältnisse nicht auf eine Formel zu bringen.

Denn fraglos entzündet sich die Fantasie vieler Komponisten an bestehenden Formen. Doch, "die Fantasie entzündet sich", das heißt: aus den bestehenden Formen wird etwas anderes, neues. Mozart überspielt mit leichter Hand die Grenzen übernommener Formtypen; Beethoven zitiert Formeln, um sie dialektisch umzudeuten; Strawinsky zitiert, um zu parodieren. Spiel, Dialektik und Parodie stehen in Opposition zu einem starren Formalismus.

Schönberg bekennt in bezug aus sein erstes Streichquartett, daß ihm der erste Satz von Beethovens Eroica als Modell gedient habe. Schönberg beruft sich für sein Verfahren auf Brahms, der sich ebenfalls durch Beethoven inspirieren ließ. Dennoch sieht Schönberg in Brahms einen "progressiven Komponisten", während eine äußerliche Betrachtungsweise Brahms' Klassizismus konstatieren würde. Denn – so zeigt es Schönberg auch am Werk von Gustav Mahler – es kommt nicht auf den formalen Ausgangspunkt, auf die verwendeten Formeln, an, sondern auf das, was der Komponist aus ihnen macht, auf die Verarbeitung. Das beweisen ebenso Beethovens Diabelli-Variationen wie Bachs Kunst der Fuge – oder auch Mozarts Briefe.

Tradition beweist sich nicht als Kopie, sondern als Verwandlung, als Erneuerung. Es ist also deutlich ein produktiver Historismus von dem bloß eklektischen Historismus derer zu unterscheiden, die nicht die Fantasie zu Spiel, Dialektik oder Parodie, die nicht die Kraft zur Verwandlung haben. Abziehbilder schaffen keine Formen; um so leichter werden sie als solche ideologisiert. Sie sollen dann "gottgegeben" oder "natürlich" sein, – Schlagworte, welche immer wieder gegen die neue Musik hervorgeholt werden.

An was aber kann man sich halten, wenn die Kategorien der Formenlehren versagen? "Halten" kann man sich an nichts, es sei denn an die "Bewegung". Denn "nur die Bewegung ist produktiv", wie Schönberg in der Harmonielehre schreibt. Auch Schönberg leugnet nicht die Notwendigkeit der Theorie: "Es ist geradezu unsere Pflicht, über die geheimnisvollen Ursachen der Kunstwirkungen immer wieder nachzudenken. Aber: immer wieder von vorn anfangend; immer wieder von neuem selbst beobachtend und selbst zu ordnen versuchend. Nichts als gegeben ansehend als die Erscheinungen. Die darf man mit mehr Recht für ewig ansehen als die Gesetze, die man zu finden glaubt."

Zu fordern ist also eine Analyse, die nicht klassifiziert, sondern Schritt für Schritt den Launen des Komponisten bzw. der Komposition folgt, die versucht, dem jeweils wirkenden Formprinzip auf die Spur zu kommen, der Formwerdung als jeweiligem Ereignis, der Formgenese, wie Klee oder Stockhausen es nennen.

Fragwürdiges Wort "Formenlehre"! Zu fordern ist eine Formenlehre, die nicht allein die Formen (als fixierte Kategorien), sondern das Formen lehrt, die mit originalen Beispielen in die Möglichkeiten künstlerischen Formens einführt, die Form als individuellen, immer neuen Vorgang begreiflich macht.

II

Ein besonderes Augenmerk haben wir auf die Romantik zu richten, weil sich hier die ästhetische Wandlung zutrug, aus der die Moderne bis heute erwuchs. Es wurden hier vor allem zwei Momente bedeutend, auf die ich schon im Zusammenhang mit dem späten Beethoven hinwies:

1. Synthese der Formprinzipien und Formcharaktere, und damit die Formentgrenzung.
2. Paradoxie der Form, insofern der polare Gegensatz immer schon mit enthalten ist: im Kleinen das Große, im Großen das Kleine; im Stillen das Laute, im Lauten das Stille; im Vielen das Eine, im Einen das Viele; im Chaos die Form, in der Form die Unmöglichkeit der Form.

Form ist Labyrinth, Fülle des Möglichen – und Fragment, Ausschnitt des Möglichen. Form ist vieldeutig, nicht aber eindeutig definierbar.

Im Romantischen vollzieht sich nach Novalis die "qualitative Potenzierung" des Endlichen und Begrenzten wie die "Logarithmisierung" des Unendlichen und Unbegrenzten. "Willkür und Zufall", "Algebra" und "magische Begebenheiten", "Natur und Geist" stehen in "freiem Wechsel". Für den romantischen Künstler ist "alle Darstellung im Entgegengesetzten, und seine Freiheit im Verbinden macht ihn unumschränkt".

Das Romantische zielt auf das Unendliche im Großen: Bereicherung der Klangfarbe, Vergrößerung des Orchesterapparates von Berlioz bis Wagner und Mahler; Dehnung der Form, die "himmlischen Längen" bei Schubert, Wagners "unendliche Melodie", die sinfonischen Zyklen von Beethoven bis Bruckner und Mahler. Fantastik des Kombinatorischen. Schumann kommt seine Kreisleriana "bei aller Einfachheit so unendlich verschlungen" vor. Mahlers Sinfonie "muß etwas Kosmisches an sich haben, muß unerschöpflich wie die Welt und das Leben sein".

Das Romantische zielt auf das Unendliche im Kleinen: Betonung der Nuance, Entdeckung des Einzeltons, des Instrumentaltons, der Klangfarbe an sich; die Unendlichkeit des Augenblicks; Beethovens Bagatellen, Schuberts Moments musicaux, Schumanns Kinderszenen u. a., Chopins Preludes, Brahms' Intermezzi, Skrjabins Preludes. Die Harmonie ist nach August Wilhelm Schlegel das "mystische Prinzip in der Musik, welches nicht auf den Fortschritt der Zeit seine Ansprüche auf mächtige Wirkung baut, sondern die Unendlichkeit in dem unteilbaren Momente sucht". Fantastik des Mystischen, oder – wie Walter Benjamin es später formuliert – "die Gabe, im unendlich Kleinen zu interpolieren".

Die "Freiheit der Entscheidung" ist für den Komponisten unbegrenzt, als Labyrinth, und gerade darum weist jede Entscheidung über sich selbst hinaus, als Fragment.

Die "Freiheit in der Erscheinung" in dieser definiert undefinierbaren Musik hinzunehmen, wird für den Betrachter bzw. Hörer immer schwerer. Er unterlegt der Musik ein poetisches Programm, er zwingt sie in das Prokrustesbett der Formkategorien. Auch die Komponisten selbst sind der Freiheit nicht immer gewachsen. Auf die Romantik folgt der Biedermeier.

Während im Biedermeier – wie im Klassizismus – alles seinen Ort hat, alles sauber getrennt kategorisiert und katechisiert wird, ist die Romantik auf Synthese aus, aus der das Leben erwächst. Die romantische Synthese und das "Potpourri" der Salonsphäre sind natürlich zweierlei. In der romantischen Synthese wird das Verschiedene nicht lediglich durcheinander gewürfelt, sondern aufeinander bezogen. Die beiden möglichen Perspektiven sind dabei:

a) die Ableitung des Mannigfaltigen aus dem Einen, sei es eine "idee fixe", ein "Leitmotiv" oder ein "Thema",
b) die Integrierung der verschiedenen Formprinzipien wie z.B. in César Francks "Sinfonischen Variationen" oder Liszts Sonate in H-Moll.

Die Einbeziehung lyrischer Strukturen in die Romanstruktur ist von Jean Paul und dem romantischen Roman bis zu Arno Holz' "Phantasus" und James Joyce zu verfolgen. Entsprechendes gilt für das Drama von Tieck bis Beckett, für die Oper von Weber bis Wagner und Debussy, und darüber hinaus bis Fortner und Henze. In der Sinfonik Schuberts, Schumanns, Brahms und Mahlers verschmelzen strukturhafte und liedhafte Elemente.

Die Lyrisierung hebt die dramatische und formale Kausalität weitgehend auf. Anfang und Schluß, Richtung und Rahmung der Form werden problematisch. Schuberts lyrisierte Sonaten hören auf, obwohl es ewig so weiter gehen könnte. In die Idylle des H-dur-Nocturne op. 32 von Chopin bricht die zerstörende Geste ein. Abgebrochen wird, was logisch nicht aufhören könnte. Der kurz vorüberhuschende Schlußsatz aus Chopins B-moll-Sonate sowie die Kürze einiger Preludes mögen ähnliches besagen.

Form kann abbrechen, und gerade ihre Kürze verweist dann ins Unendliche. Form kann sich unendlich verschlingen, und ihre unendliche Verschlingung mag doch um einen Ton kreisen wie es das Motto von Schumanns C-dur-Fantasie meint: "Durch alle Töne tönet / im bunten Erdentraum / ein leiser Ton gezogen / für den der heimlich lauschet".

Die alte Formel "Eins und Alles" bekommt in der Romantik einen neuen magischen Klang. In ihr lösen sich die Gegensätze. Romantische Form, so komplex sie ist, ist zugleich wesenhaft monologisch: Monolog des Subjekts und Monolog des Objekts.

Der Monolog des Subjekts: d.h. das redende Ich, das keines Gegenübers mehr bedarf, da die Welt im Ich enthalten ist, die Welt durch das Ich hindurchgeht. Schellings erste Schrift handelt vom "Ich als Prinzip der Philosophie". Bei Fichte ist die Welt Spiegel des Ich. Bei Schlegel ist das Ich eine Personifikation der Natur. Doch das Ich vermag sich auch von der Bindung an das Gegenständliche, Programmatische, zu lösen. Hegel spricht von dem "ganz leeren Ich", von der "abstrakten Subjektivität als solcher". Die totale Einsamkeit erlaubt zugleich die totale Freiheit der Entscheidung.

Der Monolog des Objekts: d.h. das redende künstlerische Material, das keines Gegenübers mehr bedarf, sei es ein Publikum, das reagiert, sei es ein poetisches oder formales Programm, an dem es sich zu messen hätte. Der Eigenwert des künstlerischen Materials wird erst in der Romantik bewußt. So ist für Novalis die rechte Sprache nichts anderes als ein bloßes Wortspiel": "Wenn man den Leuten nur begreiflich machen könnte, daß es mit der Sprache wie mit den mathematischen Formeln sei. – Sie machen eine Welt für sich aus – sie spielen nur mit sich selbst, drücken nichts als ihre wunderbare Natur aus, und eben darum sind sie so ausdrucksvoll...". In ähnlicher Weise vergleicht Novalis die Musik mit der Mathematik. Damit ist deutlich ausgesprochen, daß der "Inhalt" nicht außerhalb des Materials, sondern allein innerhalb des Materials und der materialen Vorgänge zu suchen ist. (Schönberg spricht später in diesem abstrakten Sinn von der "Geschichte eines Themas".)

Man hat in dieser romantischen Tendenz zum Objektiven, Technischen eine Gegenbewegung zur romantischen Subjektivität und Irrationalität sehen wollen. (Das magische Kunstwerk träume – so schreibt Adorno – "sein vollkommenes Gegenbild, das mechanische".) Doch handelt es sich hier um mehr als eine bloße Gegenbewegung. Der romantische Monolog ist ambivalent und paradox. Das abstrakte, auf sich selbst gestellte Ich und das abstrakte, auf sich selbst gestellte Material bedingen sich. Die von Hegel für den Musikausdruck geforderte "abstrakte Subjektivität als solche" kann sich nur in einer abstrakten Materialität als solcher realisieren. Und so definiert Hegel die "Töne als Töne" und die "einzelnen Töne in ihrem bestimmten Maßverhältnis und in der Beziehung auf andere Töne".

Schon aus dieser Formulierung ist die Nähe einer solchen Ästhetik zu Schönbergs Theorie der "Komposition mit 12 nur aufeinander bezogenen Tönen" zu ersehen. In der Ambivalenz und Paradoxie des romantischen Monologs wurzelt vor allem Weberns Werk, – von Adorno auf die treffende Formel gebracht: "Durchkonstruktion um der unmittelbaren Kundgabe willen."

III

Für den folgenden Überblick über die Formentwicklung nach 1900 will ich mich – wie bei der Romantik – auf das wesentliche Neue beschränken und die vielfachen Äußerungen klassizistischer und neoprimitiver Haltung außer acht lassen.

1906 erscheint in einem obskuren italienischen Verlag ein schmales, nichtsdesto weniger revolutionäres Büchlein: Busonis "Entwurf einer neuen Ästhetik der Tonkunst". Busoni fordert die Freiheit der Musik von den Gravitationskräften der Materie, denn frei sei die Tonkunst geboren und frei zu werden sei ihre Bestimmung, frei von den Fesseln der tonalen, oder besser, tonikalen Harmonik, frei von irgendwelchen programmatischen Absichten, nicht zuletzt frei auch von den sogenannten "absoluten Formen". Erst die Freiheit von Formkategorien mache die Musik wahrhaft "absolut". "Absolute Musik! Was die Gesetzgeber darunter meinen, ist vielleicht das Entfernteste vom Absoluten in der Musik. 'Absolute Musik' ist ein Formenspiel ohne dichterisches Programm, wobei die Form die wichtigste Rolle abgibt. Aber gerade die Form steht der absoluten Musik entgegengesetzt, die doch den göttlichen Vorzug erhielt, zu schweben und von den Bedingungen der Materie frei zu sein. Auf dem Bilde endet die Darstellung eines Sonnenuntergangs mit dem Rahmen; die unbegrenzte Naturerscheinung erhält eine viereckige Abgrenzung; die einmal gewählte Zeichnung der Wolke steht für immer unveränderlich da. Die Musik kann sich erhellen, sich verdunkeln, sich verschieben und endlich verhauchen wie die Himmelserscheinungen selbst… "

"Absolute Musik ist dagegen etwas ganz Nüchternes, welches an geordnet aufgestellte Notenpulte erinnert, an Verhältnis von Tonika und Dominante, an Durchführungen und Kodas. Da höre ich den zweiten Geiger, wie er sich eine Quart tiefer abmüht, den gewandteren ersten nachzuahmen, höre einen unnötigen Kampf auskämpfen, um dahin zu gelangen, wo man schon am Anfang stand. Diese Musik sollte vielmehr die architektonische heißen, oder die symmetrische, oder die eingeteilte."

Die Pause und die Fermate, die vorbereitenden und vermittelnden Teile in den Werken der früheren Komponisten kommen nach Busoni dem wahren Wesen der Musik noch am nächsten. Als Beispiel nennt er Bachs Orgelfantasien und die Introduktion zur Fuge von Beethovens Hammerklavier-Sonate.

Der Komponist hat nach Busoni "zuerst die negative, die verantwortlich-große Aufgabe, von allem Gelernten, Gehörten und Scheinbar-Musikalischen sich zu befreien; um, nach der vollendeten Räumung, eine inbrünstig-asketische Gesammeltheit in sich zu beschwören, die ihn befähigt, den inneren Klang zu erlauschen und zur weiteren Stufe zu gelangen, diesen auch den Menschen mitzuteilen".

Auf Busonis Entwurf folgt der frühe Expressionismus. Kandinsky malt 1910 sein erstes abstraktes Aquarell. Schönbergs und Weberns athematische Stücke entstehen. Man kann hier schon, wie Adorno es tut, von einer ersten informellen Musik sprechen. Dabei ist "informell" nicht mit "form-los", sondern mit "frei von Vorgeformtem" zu übersetzen.

Die traditionellen Formen waren in den vorausgegangenen Stücken dissoziiert.

Nichts soll nun komponiert werden, was nicht unmittelbarer Ausdruck ist oder das "Ureigenste", wie Webern es nennt. Form entsteht – wie zuweilen bei Schönberg – als spontanes Psychogramm, als eine Art "automatischer Niederschrift". Oder Form entsteht – wie bei Webern – aus meditativer Haltung, aus der (von Busoni geforderten) "inbrünstig-asketischen Gesammeltheit". Dabei werden zugleich materiale Eigenforderungen bewußt. So berichtet Webern, daß er bei der Komposition seiner Bagatellen op. 9 die 12 Töne der chromatischen Skala abgestrichen habe.

Es ist nichts Vorgeformtes mehr in der Musik – weder eine tonikale Hierarchie, noch formale Kategorien, formale Rahmung und Richtung, Thematik und Periodik. Es bleibt nur das kompositorisch bewußte musikalische Material: die Töne der chromatischen Skala, die instrumentale Klangfarbe bis zur Geräuschhaftigkeit des Schlagzeugs, – und die unbeschränkte Freiheit des Komponisten, die materialen Elemente zu verbinden und zu verteilen. Das negative Formprinzip, keine Verbindungen und Verteilungen zu bringen, die an traditionelle Formulierungen erinnern, bewirkt die Aperiodizität der Form, bewirkt den Eindruck einer maximalen "Freiheit in der Erscheinung". Für den Komponisten bedeutet das zugleich ein Entscheidungsmaximum von Ton zu Ton, von Moment zu Moment.

Hören Sie als Beispiel für dieses erste Stadium der informellen Musik Weberns Orchesterstück op. 10, Nr.2!

1923 formuliert Schönberg das Prinzip der "Komposition mit 12 nur aufeinander bezogenen Tönen" und die "Theorie von der Einheit des musikalischen Raumes".

Damit wird zum Gesetz, was unbewußt vorher geahnt war. Während bis zur Jahrhundertwende jeder musikalische Formverlauf der tonikalen Schwerkraft folgte, so daß man alle Musik als auskomponierte Kadenz bezeichnen konnte, weist nun Schönbergs Theorie der Musik den Raum zu, in dem es kein "oben" und "unten", kein "früher" und "später" gibt.

Webern vollzieht seit seinem op. 21 die praktische Konsequenz dieser Theorie. Er komponiert nicht mehr "thematisch", wie es Schönberg nach 1923 trotz seiner Theorie wieder tut, sondern er ordnet die Töne "strukturell" nach Maßgabe der gewählten Reihenproportionen. Die traditionelle Funktionsharmonik ist ersetzt durch eine Art Ton-Topologie. Die Töne werden auf den Gleitschienen der Reihenproportionen gleicherweise in die Vertikale und in die Horizontale projiziert. Die Töne können vertikal wie horizontal symmetrisch verteilt werden, so daß die Musik von rechts nach links und von oben nach unten so sinnvoll wird wie von unten nach oben und von links nach rechts. Weberns Klaviervariationen op. 27 sind das bekannteste Beispiel. Der erste Satz ist eine Folge von horizontal-symmetrischen Tonverteilungen. Der zweite Satz ist eine Folge von vertikal-symmetrischen Tonverteilungen.

Hören Sie als Beispiel den zweiten Satz!

Wir sprechen von "Struktur" in dem Sinne, daß die Töne "nur aufeinander bezogen" sind. In einer Musik, in der die Töne "nur aufeinander bezogen" sind, sind Begriffe wie "Melodie" und "Harmonie", "Hauptstimme" und "Begleitung", "Homophonie" und "Polyphonie", "Thema", "Zwischenspiel" usw. sinnlos. Die Struktur" der Webernschen Musik ist funktionslos, indem sich die strukturellen Elemente (Töne) keiner Hierarchie fügen; sie ist richtungslos, indem die strukturellen Elemente vielgerichtet bzw. vielbezüglich sind; sie ist rahmenlos, indem die strukturellen Elemente "nur aufeinander bezogen" sind, indem die Ton-Konstellationen in sich selber aufgehängt sind.

Auf Webern berufen sich die Komponisten der "seriellen Musik". Eine serielle Komposition erscheint als Netzwerk von Tonelementen. Sie ist frei in bezug auf ihr Außen. Innen hält sie ein seriell determiniertes System von Beziehungen zusammen. Der Komponist ist frei nur vor der Komposition. Innerhalb der Komposition verfällt sein Impuls mehr und mehr dem Zwang des gewählten Systems. Das heißt, Freiheit der Entscheidung besteht nur noch in beschränktem Maße. Die Elemente der Kompositionen scheinen frei variabel zu sein. Sie sind es indes nur auf den Gleitschienen der fixierten Reihenproportionen.

Im frühen Expressionismus bestand fast unbeschränkte Entscheidungsfreiheit der Variation. Webern legte in seinen Reihenkompositionen nur die Tonhöhen fest. Die anderen Parameter wie Tondauer, Einsatzabstand, Klangfarbe, Lautstärke, Artikulation blieben frei entscheidbar und variierbar. Die serielle Musik unterwirft auch die anderen Parameter der Reihenordnung. An die Stelle der fast unbeschränkten Entscheidungsfreiheit der Variation tritt nun die seriell regulierte Wahlfreiheit der Permutation. Die drei Elemente A, B und C, zum Beispiel, lassen nur die 6 Permutationsmöglichkeiten zu: ABC, ACB, BAC, BCA, CAB, CBA, – und weiter nichts. Dabei nimmt die Wahlfreiheit zunehmend ab.

Die Wahlfreiheit der Permutation wird weiter eingeschränkt durch übergeordnete Permutationsreihen. Schließlich bleibt nur die Vorwahl einer alles regulierenden Zahlenreihe. Damit wird das Gesetz des Werkes nicht mehr aus dem Werk selber, aus seiner "Genese", abgeleitet, sondern vor das Werk gesetzt, als "Praedetermination". Das immanente Formprinzip ist so unversehens wieder zum Formschema geworden, und gelte es auch nur für ein einziges Werk.

Weberns Musik blieb immer ambivalent. Selbst in den kreisenden Strukturen seines Spätwerkes wirkte die subjektive Entscheidungsfreiheit stilbildend.

Eine bloß permutationelle Kunst ersetzt ein subjekt-offenes Formprinzip durch einen subjekt-leeren Materialautomatismus. Das "Manifest der permutationellen Kunst" von Abraham Moles spiegelt – 50 Jahre nach Busonis genialem "Entwurf" – den naiv-positivistischen Glauben wieder, daß man das Feld der Möglichkeiten einschränken und permutationell ausschöpfen könne, daß die Freiheit materialisierbar und regulierbar sei. Doch der Glaube an die "Regel", welche Überraschungen ausschließt, verkennt die Paradoxie der musikalischen Form.

In der total durchorganisierten Struktur schleicht sich leicht ein "Fehler" ein, wie Ligeti am Beispiel der "Structure Ia" von Boulez gezeigt hat? Daß solche Organisationsfehler dem Komponisten unterlaufen können, ohne daß dieser es merkt und ohne daß sich der Formcharakter des Stückes dadurch ändert, zeigt die Grenze des Falls. Hier liegt zugleich die innere Ursache einer neuen Entwicklung verborgen. Vom zufälligen Fehler zum "gelenkten Zufall" ist gleichsam nur ein Schritt.

Der Zufall wird in die serielle Ordnung eingeführt, von Boulez unter dem Stichwort "Aleatorik", von Stockhausen in den sogenannten "statistischen", "variablen" und "vieldeutigen" Formen. Die Organisation von Tonmengen nach Gesetzen der großen Zahl, wobei es mehr um die Wahrnehmung von "durchschnittlichen" als von "punktuellen" Eigenschaften geht, gibt dem "Punkt" im "Kollektiv" eine gewisse Variabilität und Beliebigkeit. Der Interpret wird in die Formgestaltung mit einbezogen. Er kann in der "variablen Form" einzelne Formparameter wie z.B. die Geschwindigkeit, nach Maßgabe seiner individuellen Empfindung gestalten. Er kann in der "vieldeutigen Form" sogar über die Reihenfolge der einzelnen Formteile entscheiden, kann weglassen und vertauschen – wie im Fall des berühmten (seither vielfach imitierten) Klavierstückes XI von Stockhausen.

Doch damit ist das Formdilemma der seriellen Musik noch nicht gelöst. Beide Formen, die serielle und die aleatorische Form beruhen auf permutationellem Denken. Der Unterschied liegt allein darin, daß in der seriellen Musik die permutationellen Möglichkeiten auskomponiert werden, während in der aleatorischen Musik die permutationellen Möglichkeiten offen gelassen werden. Das eine ist Zwang; das andere ist Unverbindlichkeit. Verzicht auf die Entscheidung, unrealisierte Freiheit.

Einen anderen Weg eröffnet Stockhausen mit seiner Theorie der "Momentform": Komposition von individuellen "Momenten", gleichzeitig nebeneinander oder nacheinander, in spontanen Arbeitsgängen, ohne logischen Zusammenhang, ohne logischen Anfang und Schluß. Daher spricht Stockhausen auch von "unendlicher Form". Jeder "Moment" ist ein organisches Ganzes, mit einer eigenen Formcharakteristik, mit einer eigenen "Erlebniszeit" oder "biologischen Zeit", unabhängig von vorausgehenden oder folgenden Momenten, zugleich "offen" gegen vorausgehende oder folgende Momente. Zwar verrät die Unverbindlichkeit des Zusammenhangs noch eine Beziehung zum permutationellen Denken. Doch die Freiheit der Entscheidung ist wieder in die "Formgenese" hineingenommen. Wenn der Instinkt des Komponisten das Ganze organisch auszubalancieren vermag, und wenn die Momente durch die Einheit der kompositorischen Handschrift zusammenhalten, so mag eine überzeugende Form entstehen.

Einen zweiten kompositionstechnischen und -ästhetischen Ansatz bietet Stockhausens Tendenz, zwischen den Extremen zu vermitteln: zwischen Determinierten und indeterminierten Strukturen, zwischen kollektiven und punktuellen Strukturen, zwischen Geräusch und Ton, zwischen elektronischem Klang und Instrumentalklang, zwischen Metall- und Holzklang, zwischen Zuständlichem und Veränderlichem, usw.

Speziell das durch die elektronische Musik eröffnete Klangmaterial hat ein neues Musikdenken evoziert: ein Denken im Klangkontinuum vom Ton zum Geräusch, vom Geräusch zum Ton; ein Denken in Klangvermittlungen.

Wie man die klassische Musik als "Geschichte eines Themas" paraphrasiert hat, so kann man die postserielle – elektronische und instrumentale – Musik als "Gechichte eines Klanges" als "Klanggeschehen" paraphrasieren: die Abenteuer eines Tones, der zum Klang, zum Geräusch wird; die Abenteuer eines Geräusches, das zum Klang, zum Ton wird.

Hören Sie als Beispiel eine Stelle ans Stockhausens "Kontakten" für elektronische Klänge, Klavier und Schlagzeug!

Die neu erworbenen Erfahrungen ermöglichen eine Fülle von Formen, gemäß der individuellen Handschrift eines jeden, ob elektronisch oder instrumental, ob für großes Orchester oder für kammermusikalische Besetzung, ob vom Geräuschhaften ausgehend oder vom Tonlichen.

Auch wenn man sich auf das Material der Töne beschränkt, bleiben viele Möglichkeiten, die in der 1. informellen Periode nicht genutzt wurden, da hier die Tradition als negatives Stilkriterium wirkte und Tabus schuf – wie z. B. das Oktavenverbot –, Tabus, die heute weitgehend entfallen. Während in der 1. informellen Periode Form dissoziativ entstand, kann heute – nach dem Durchgang durch die serielle Disziplin – Form wieder frei assoziativ entstehen. Eine 2. Periode informeller Musik beginnt bzw. hat schon begonnen.

Zum Abschluß sei in sechs Thesen informelle Musik summarisch umschrieben

(1) Informelle Musik ist frei von vorgegebener Form. Sie kon-formiert nicht. Sie formt sich aus spontanem Impuls, aus Meditation und materialer Assoziation. Zwar ist der Komponist durchaus nicht dilettantisch dem Studium des Materials, der materialen Möglichkeiten und historischen Lösungen enthoben. Doch überläßt er sich in der Form-genese seinem Instinkt, seiner Handschrift und der Initiative des Materials.

(2) Informelle Musik ist Zeitkunst, da sie in der Zeit wird und vergeht. Töne, Klänge und Passagen kommen und gehen. Der traditionelle Formbegriff resultiert aus statischer Vorstellung, die für Fläche und Raum gelten mag, die aber den dynamischen Charakter der Musik verfehlt. Gäbe es nur Raum, so gäbe es nur Zustand. Gäbe es nur Zeit, so gäbe es nur Veränderung. Die Fantasie schafft einen Zeit-Raum, in dem Zustand und Veränderung aufeinander bezogen sind, in dem Beschleunigungen und Verlangsamungen, Verkürzungen und Umwege möglich sind. In der Vorstellung kann sich auch die Zeit in Raum verwandeln, wie z.B. in Schönbergs "Theorie von der Einheit des musikalischen Raums". Musik wird dann zum Labyrinth, zum Mobile, zur Grafik. Doch ist die Grafik das Ende der Musik als spezifischer Gattung, d.h. der Musik als Zeitkunst.

(3) Informelle Musik ist nicht formlos. Aber ihre Form ist der Übergang, die Bewegung aus dem einen in das andere. Das Gesetz dieser Bewegung ist die Organik. Die Organik der informellen Musik ist so frei und autonom zugleich wie ein Vorgang in der Natur. Die Musik kann – wie Busoni schreibt – "sich zusammenballen und kann auseinanderfließen, die regloseste Ruhe und das lebhafteste Stürmen sein", sie kann "sich erhellen, sich verdunkeln, sich verschieben und endlich verhauchen wie die Himmelserscheinung" einer Wolke.

(4) Informelle Musik ist nicht formlos. Aber ihre Form ist "offen". Sie bedarf keines Rahmens, der sie hält, und keiner vorgegebenen Richtung, die sie trägt, sei es ein poetisches Programm, sei es eine formale Kategorie.

(5) Die informelle Komposition ist einem Spaziergang in eine unbekannte, imaginäre Landschaft vergleichbar, so wie Klee den Vorgang des Malens beschreibt: "Entwickeln wir, machen wir unter Anlegung eines topographischen Planes eine kleine Reise ins Land der besseren Erkenntnis. Über den toten Punkt hinweggesetzt sei die erste bewegliche Tat (Linie). Nach kurzer Zeit Halt, Atem zu holen. (Unterbrochene, bei mehrmaligem Halt gegliederte Linie). Rückblick, wie weit wir schon sind. (Gegenbewegung). Im Geiste den Weg dahin und dorthin erwägen (Linienbündel)" ... "Die Elemente sollen Formen ergeben, nur ohne sich dabei selber zu opfern" ... "Bewegung liegt allem Werden zugrunde... Die Genesis der 'Schrift' ist ein sehr gutes Gleichnis der Bewegung. Auch das Kunstwerk ist in erster Linie Genesis. Niemals wird es als Produkt erlebt."

(6) Die informelle Komposition ist das immer neue Abenteuer der Freiheit, d.h. die immer neue Entscheidung aus dem Nullpunkt heraus. Der entscheidende Moment der Komposition ist unhörbar – der Moment vor dem Klang, so wie der entscheidende Moment der Malerei unsichtbar ist – der Moment vor der Farbe. Die Stille ist wie die "leere Leinwand" Kandinskys: "scheinbar: wirklich leer, schweigend, indifferent. Fast stumpfsinnig. Tatsächlich: voll Spannungen mit tausend leisen Stimmen, erwartungsvoll".
Der unartikulierte Lärm vieler neuerer Kompositionen verrät laut nur das Versagen der Komponisten und Hörer vor der Stille.

Eine kompositorische Entscheidung kann "so" oder "anders als so" lauten. Indem ich sage "dies ist so!", obwohl es auch "anders als so" sein könnte, existiere ich. Doch da in der Musik schon durch die Dimension der Zeit alles in Fluß ist, sind nur relative Entscheidungen möglich. Die Entscheidungen heißen dann "mehr als" oder "weniger als". Etwas ist mehr oder weniger laut, mehr oder weniger schnell, mehr oder weniger hoch, usw. In dieser Relativität liegt zugleich die Schwierigkeit, Musik zu verstehen. Definieren heißt mißverstehen, wenn festgelegt wird, was nicht festzulegen ist.

Die permanente Analogie, die voraussehbare Wiederholung, die perfekte Konstruktion auf der einen Seite und der permanente Kontrast, die voraussehbare Nichtwiederholung, die unartikulierte Expression auf der anderen Seite sind die Extrempunkte, zwischen denen Musik möglich ist. (Damit komme ich nochmal zur 3. These "Musik ist Übergang".)

Zwischen Analogie und Kontrast als den beiden allgemeinsten Formprinzipien liegen unendliche Grade der Vermittlung oder Veränderung. Vermittlung z. B. zwischen Ton und Geräusch, Holz- und Blechklang, laut und leise, schnell und langsam, bewegt und unbewegt, fixiert und frei, punktuell und kollektiv. Veränderungen z. B. vom Ton zum Geräusch, vom Holzklang zum Blechklang usw.

Kontraste werden vermittelt, assoziiert. Analogien werden verändert, dissoziiert. Kontraste werden zu Analogien, Analogien werden zu Kontrasten.

Aber wie gesagt: Definieren heißt mißverstehen, wenn festgelegt wird, was nicht festzulegen ist. Auch der hier vorgebrachte Gegensatz "Analogie und Kontrast" existiert – genau besehen – nicht. Das Analoge, das Ähnliche, ist immer auch etwas anders. Das Kontrastierende, das Andere, ist immer auch etwas ähnlich. (Bei Webern und Stockhausen wird diese Doppelperspektive zum bewußten kompositorischen Ausgangspunkt: Weberns Ideal ist "dasselbe immer anders". Stockhausens Ideal ist umgekehrt "verschiedene Gestalten im gleichen Licht".)

Musik ist vieldeutig. Diese Vieldeutigkeit erleichtert es wiederum Leuten, die Musik nicht als Sprache ihrer selbst verstehen, sie in ein poetisches Programm oder in eine formale Kategorie zu zwingen, indem sie ähnliches anders und anderes ähnlich sehen.

Musikalische Form erscheint zuletzt grundlos und paradox. Als Zeitkunst hat die Musik im wörtlichen Sinn keinen "Bestand". (Jean Paul nennt die Töne ein "ewiges Sterben"). Seit Beethoven und der Romantik vor allem ist der authentischen Musik ein geheimer Widerruf immanent, das Bewußtsein des ästhetischen Scheins, die Möglichkeit plötzlicher Störung oder Stille: in Spiel und Dialektik, in Parodie und Verwandlung, in Fragment und Labyrinth, in Fermate und Pause.

Es gibt nur eine einzige definitive Entscheidung, das ist die Entscheidung gegen die Definition. Denn – wie Braque einmal sagt – "der Konformismus beginnt mit der Definition".

So läßt sich nicht schließen, aber auf-hören.