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Friedhelm Döhl • Komponist

Peter Becker
Friedhelm Döhl


Auszug aus: Peter Becker: Friedhelm Döhl zum 65. Geburtstag. Typoskript Hannover 2001.
(Auszüge auch in Studia Niemcoznawcze, Warszewa 23/2002 und MGG.)


Geboren am 7. Juli 1936 in Göttingen, Komponist. Nach dem Abitur an einem humanistischen Gymnasium studierte Döhl Komposition (bei Wolfgang Fortner), Klavier (bei Carl Seemann) und Schulmusik an der Staatl. Hochschule für Musik Freiburg sowie Germanistik, Musikwissenschaft, Philosophie und Kunstgeschichte an den Universitäten Freiburg und Göttingen.

Dort promovierte er 1966 mit "Weberns Beitrag zur Stilwende der Neuen Musik". Nachdem zu Beginn des Musikstudiums die Musik Anton Weberns sein kompositorisches Vorbild war, löste sich Döhl bald aus diesem Traditionszusammenhang.

Von seinem Bruder, dem Schriftsteller Reinhard Döhl, und dessen künstlerischem Umfeld in Stuttgart zur Auseinandersetzung mit literarischen und bildnerischen Formen informeller Kunst angeregt, schrieb Döhl u.a. OCULAPIS. REFLEXE für Flöte und Klavier. 1963 gab er mit diesem Werk seinen Einstand bei den Darmstädter Ferienkursen für Neue Musik. 1964-68 wirkte Döhl als Dozent für Musiktheorie und Komposition am Robert-Schumann-Konservatorium Düsseldorf, wo er das Studio für Neue Musik gründete. Kraftvolle Impulse erwuchsen ihm aus der Freundschaft und aus der künstlerisch überaus fruchtbaren Zusammenarbeit mit dem Maler Günther Uecker.

Die folgenden Berliner Jahre (1969-74), in denen Döhl zunächst als Akademischer Rat und Lektor, seit 1971 als Professor am Musikwissenschaftlichen Institut der Freien Universität tätig war, waren von gesellschaftlichen und ästhetischen Auf- und Umbrüchen bestimmt. Die überwiegend experimentellen und multimedialen Werke aus jener Zeit spüren diesen Veränderungen seismographisch nach. Das Amt des Direktors der Musik-Akademie Basel, auf das er 1974 berufen wurde, eröffnete Döhl Gestaltungsmöglichkeiten, die er z.B. mit der Gründung der Studios für Elektronische Musik, für Musik und Theater und für Außereuropäische Musik zu nutzen wußte.

Der in den Baseler Jahren entstandene MEDEA-MONOLOG (1979/80) zählt ebenso wie die SYMPHONIE für Violoncello und Orchester (1980/81) zu Schlüsselkompositionen in Döhls Œuvre. Ihre Spuren ziehen sich über die Schwelle zum neuen Jahrtausend durch die Werklandschaft.

Seine Berufung als Professor für Komposition an die Musikhochschule Lübeck (1982) war folgenreich nicht nur für die Hansestadt, sondern für eine ganze Region, sofern sie die von Döhl initiierten Angebote an Neuer Musik wahrnahm ("Forum junger Komponisten", "Werkstatt Neue Musik", die Reihe "Musica Viva / Begegnungen" in Reinbek u.a.m.).

Sein Schaffen der Lübecker Zeit hat mit der Oper MEDEA (1987-90), dem Orchesterwerk PASSION (1984), dem Streichquintett WINTERREISE (1985), der SYMPHONIE für großes Orchester(1997/98) und dem REQUIEM 2000 eindrucksvolle Wegzeichen, die untereinander auf subtilste Weise kommunizieren. Döhls umfangreiches Œuvre umfaßt Kompositionen für Soloinstrumente und Kammermusik, Vokalkompositionen und Orchesterwerke, Live-Elektronik und Musiktheater. Es hat in den Zentren für Neue Musik ebenso seinen festen Platz wie im Konzertleben und im Repertoire zahlreicher Rundfunkanstalten des In- und Auslandes. Widmungsträger wie Dietrich-Fischer-Dieskau und Rudolf Buchbinder, Auftraggeber wie die Wittener Tage für neue Kammermusik, das RIAS-Tanzorchester und die 'Expo 2000' sowie Interpreten von internationalem Rang haben Anteil an dem Stellenwert, der Döhls kompositorischem Schaffen beigemessen wird. Dessen wahrer Grund aber ist in Döhls ebenso eigenständiger wie hörsamer Musik selbst auszumachen. Der frühen Einsicht von Förderern und Juroren verdankt Döhl ein Stipendium der Villa Massimo und den Rom-Preis (1967/68) sowie die Förderpreise des Landes Nordrhein-Westfalen (1968) und des Landes Berlin (1971). Seine Wahl zum Präsidenten der Internationalen Gesellschaft für Neue Musik/Sektion Deutschland (1980-83), zum Rektor der Musikhochschule Lübeck (1991-94) und zum Mitglied der Freien Akademie der Künste in Hamburg ist ein weiterer Beleg für die Reputation Friedhelm Döhls, der – sehr zum Wohle der Institutionen – auch in der souveränen Wahrnehmung administrativer Aufgaben immer Künstler geblieben ist.

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Nach dem Faszinosum der Musik Gustav Mahlers befragt, resümierte Friedhelm Döhl: "Der Ton, die Gebrochenheit, die Sehnsucht – der Versuch, die gebrochenen Schichten in einer übermenschlichen Anstrengung zusammenzuführen, das Labyrinthische – alles Begriffe, die auf die Romantik verweisen. Ich bin Romantiker." (Lutz Lesle: 'Fragment, Labyrinth, Mythos', NZfM , Mai 1990). Romantik, nicht als zeitlich oder geographisch begrenztes Phänomen, sondern als ein die Epochen übergreifender geistiger Raum, in dem Romantik als Haltung gedeihen kann: das ist in der Tat ein Schlüssel zum kompositorischen Schaffen von Friedhelm Döhl. Romantik als Haltung spiegelt – nicht anders als bei Novalis oder Joseph Beuys – ein reflektiertes Verhältnis des Ich zu sich selbst und zur Welt, das im Werk seine Spuren hinterlässt. Andererseits wird das Werk selbst zur Spurensuche, denn Kunst hat es für Döhl immer mit Fragen und Suchen zu tun, Komponieren wird zur ars quaerendi.

Fragen und Suchen bewegt sich bei Döhl in der Spannung zwischen Experiment und Existenz, zwischen Passages (1962) und Passion. (1984). Zwischen diesen beiden Polen vermittelt die Suche nach Expression, die das gesamte Œuvre von den frühen Trakl-Liedern (1958) bis zum Requiem 2000 grundiert. Passages – eine Hommage an den Dichter und Maler Henri Michaux – und Passion – kompositorischer Reflex auf Trakls gleichnamiges Gedicht – stehen stellvertretend für Döhls Affinitat zur Dichtung wie für sein kenntnisreiches und waches Gespür für die Schwesterkünste überhaupt.

Melancolia. Magische Quadrate (1967/68), das erste großformatige Orchesterwerk, steht exemplarisch für Döhls innere Nähe zu den bildenden Künsten. Gestützt auf die Zahlenproportionen des magischen Quadrats in Dürers Kupferstich, gelangt Döhl zur strukturellen Disposition der Vermittlung von Klang und Form. Aus dem differenzierten Part der Chorstimmen nach Textfragmenten von Büchner, Trakl, Nelly Sachs, Beckett und Reinhard Döhl resultiert der "magische" Klang der Komposition. Mit der Koinzidenz von Gefühl und Ratio wie auch von grüblerischer Depression und schöpferischer Reflexion löst Döhl kompositorisch ein, was das Mittelalter mit dem Begriff der Melancolia verbunden und was Dürer zur Anschauung gebracht hat.

Diese Grundspannung ist konstitutiv für Döhls Schaffen insgesamt. Sie hat in den Sieben Haiku (1963) ihre Auflösung zum helleren, heiteren Pol hin gefunden, während die Hölderlin-Fragmente (1969) zwischen Melancholie und existentieller Tragik changieren.

In den intermediär angelegten, zusammen mit dem Maler und Kinetiker Günther Uecker ausgeführten Klang-Szenen (1970 und 1971) ist der (Außen-)Raum ein wesentliches Element des künstlerischen Konzepts: Klang wird begehbar, er umzüngelt und umrundet die Besucher.

Die drei Mikrodramen aus den Jahren 1972-1974 hingegen – inszenierte Gratwanderungen zwischen Kunst und Nicht-Kunst – geben den Blick nach Innen frei, in Räume des Scheiterns, der Gefährdung des Ich und des Untrostes. Das Mikrodrama Anna K. Informationen über einen Leichenfund (1974) ist ein Requiem aus Requisiten (Leierkasten, leerlaufendes Tonband). Seine Textcollage aus Kinderspruch, Zeitungsnotizen, Goethe und Hohelied gerät im Kontext des Banalen und Verstörenden zu einem Dokument der Sprachlosigkeit angesichts des Unsäglichen.

Daß es der Neuen Musik insgesamt die Sprache verschlagen habe, suggeriert der Untertitel der Symphonie für Violoncello und Orchester (1980/1981): 'Wie im Versuch, wieder Sprache zu gewinnen'. Mit Wagners Regieanweisung aus dem II. Akt des Parsifal verweist Döhl auf Kundry, die heimatlos zwischen den Welten Wandernde, in ihrer erotischen und magischen Ausstrahlung eine Schwester der Medea. Genau das meint ein subtiler kompositorischer Bezug, wenn das Violoncello – gleichsam als Motto der Symphonie – Kundrys Ach – ! Ach – ! Tiefe Nacht… Wahnsinn… intoniert. Diese Phrase wird (unbegleitet) Medea in Döhls Oper (II/2) singen. Subtil ist auch der Zusammenhang zwischen dem Untertitel und der im traditionellen Verständnis "sprechenden" Gattung Symphonie, deren eigentliches Subjekt in Döhls Werk, das Solo-Cello, auf der Suche nach seiner Identität ist. Es ist der Weg vom Ach – ! Kundrys zum Ich des virtuos geführten Soloparts. Im Versuch, wieder Sprache zu gewinnen, findet das Ich – wie Novalis' Lehrling zu Sais – sich selbst.

Musikalische Sprachfindung ist bei Döhl immer wieder der eigentliche Gegenstand der Komposition. Oft vollzieht sie sich im Medium der Dichtung: in Liedern und Gesängen auf Gedichte von Hölderlin und Trakl, aber auch in rein instrumentalen, wortlosen Kompositionen, die gleichwohl vom Wort inspiriert sind: Tappetto (1967) nach Ungaretti, Sotto voce (1973) nach Becket, Odradek (1976) nach Kafka, Der Abend / Die Nacht (1977-1979) nach Trakl, das Ballett Ikaros (1980) nach Erik Lindegren, Passion (1985) und Winterreise. Streichquintett (1985) nach Trakl, Und wenn die Stimme… (1986) nach Beckett, Balladen für Klavier (1996) nach Celan. Indem er mit seismographischem Gespür den Impulsen der poetischen Vorlage nachgeht, ihren Skopus zustimmend eintönt oder skeptisch fragend reflektiert, gewinnt Döhl seine unverwechselbare, gegen alle Trends resistente Handschrift.

Ein Wasserzeichen seiner Partituren ist der immer neue Versuch, Klang und Form aufeinander zu beziehen – nach Döhl ein zentrales Problem für die Selbstfindung der Musik nach Aufgabe der Tonalität. In den Texturen für Flöte und Klavier (1971), in den beiden live-elektronischen Klang-Szenen von 1970-1971, im Streichquartett Sound of Sleat (1971/1972) und in Zorch für drei offene Flügel und Orchester bzw. Big-Band (1972) erscheint dieses Problem modellhaft und zugleich individuell gelöst. In Sound of Sleat etwa durch zwei Klangfelder aus Schönberg-Zitaten, dem Fünfton-Akkord aus dem Orchesterstück Farben (Op. 16 Nr.3) und dem sechsstimmigen Akkord aus dem letzten der Sechs Klavierstücke Op.19, Schönbergs Tombeau auf Mahlers Tod. Diese beiden Klangfelder markieren den Spielraum, in dem sich das Quartett bewegt. Klang (auch als Klang-Farbe – das Streichquartett ist Döhls Malerfreund Jon Schueler gewidmet) und Form stehen so in einem konkreten Wechselbezug.

Neben Fremdzitaten gibt es in Döhls Œuvre beziehungsreiche Selbstzitate, die der Werklandschaft zuweilen eine ganz neue Beleuchtung geben. So erklingt in der 3.Szene des III. Aktes von Medea (1987-1990) wiederholt jene Passage aus dem Streichquintett Winterreise, die auf Schuberts Lied Im Dorfe zurückgeht. Am Anfang der 2.Szene des II. Aktes zitiert Döhl den Beginn der Symphonie für Violoncello und Orchester (1980/81) und verweist so nochmals auf die innere Verbindung von Medea zu Kundry. Medeas Lied, eine Musik des intimsten Ausdrucks und psychologischer Höhepunkt der Oper, erscheint als 4.Satz (wie eine Insel, F.D.) der Symphonie für großes Orchester von 1997/1998, wie überhaupt die Erfahrung von Medea in das große Orchesterwerk eingegangen ist. Medea ist auch im 1.Satz des Klavierkonzerts Sommerreise (1996/1997) gegenwärtig, das der Weg- und Ausweglosigkeit der Winterreise eine hellere Faktur und die Utopie des Offenen entgegenhält. Solche Gegen-Setzung ist kennzeichnend für Döhls kompositorisches Denken. Sie findet in einer doppelten Affinitat zu Mahlers großdimensioniertem Komponieren wie zu Weberns Kunst des Aphorismus ihren sichtbarsten Ausdruck. Von Webern, über dessen Beitrag zur Stilwende der Neuen Musik er promoviert hat, sei die Verantwortlichkeit des Komponierens zu lernen, "die Redlichkeit des Handwerklichen, verbunden mit einer ungeheuren Sensibilität"(F.D.). Mahler, für den Döhl schon lange vor dessen Renaissance eingetreten ist, steht für den Versuch, die gebrochenen Schichten in einer übermenschlichen Anstrengung zusammenzuführen. (s.o.)

Requiem 2000 (Atemwende) ist auf die Gegenbewegung zweier poetischer Positionen hin komponiert: Paul Celan, der wie Jakob mit dem Engel ringt und die Situation des Betenden umkehrt (Bete, Herr, bete zu uns, wir sind nah.) und Nelly Sachs, deren Worte die Alten Propheten beschwören (Wenn die Propheten einbrächen durch die Türen der Nacht, – Ohr der Menschheit, würdest du hören? – würdest du ein Herz zu vergeben haben?). Aus solcher Spannung lebt dieses Werk, das neben vielen Anspielungen auf die Matthäus-Passion, auf Parsifal und auf das Schicksal des jüdischen Volkes auch die Assoziation eines Endspiels heraufbeschwört, nicht zuletzt im Reflex auf Mahlers Revelge und in den abschließenden Worten aus der Offenbarung.

Das nach dem Requiem im Auftrag der 'Expo' entstandene Concerto a due für Violine und Klavier indessen sagt, daß es weitergeht. Und es belegt wie alle Werke dieses vielschichtigen, alle musikalischen Gattungen umfassenden Œuvres, daß Friedhelm Döhl die Lust an Lehre und Ämtern nicht zur Last für das schöpferische lngenium geworden ist. Dialektik des Metiers: gerade die subtilsten, die "verwundbarsten" seiner Partituren signalisieren, daß der Komponist Friedhelm Döhl alle Anfechtungen des Musikbetriebs unbeschadet überstanden hat.